Sieht man doch

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ilse

Ein Bild in einer Selbsthilfegruppe für Angehörige, eine alte Frau sitzt an einem Tisch, sie schläft, ihr Kopf ist vornübergebeugt, der Mund halb offen. Durch das Fenster scheint die Morgensonne.

Was kann man da tun, fragt die Tochter, ich weiß nicht mehr was ich tun soll, ständig schläft sie so ein und will sich nicht hinlegen.

Hast Du, fragt eine, sie denn schonmal gefragt, was sie will, ja, antwortet die Tochter, sie will so sitzen, aber sie merkt doch gar nicht mehr, dass sie einschläft. Das ist doch unbequem.

Sagt wer, fragt eine andere, das sieht man doch, sagt die Tochter.

Woran sieht man das, frage ich, es ist halt so wie ich es sage, sagt die Tochter.

Hast Du schon einmal versucht, ihr einen gemütlichen Campingstuhl hinzustellen, fragt eine, ich habe sogar einen Sessel gekauft, sagt die Tochter, einen schönen Sessel, da ist alles verstellbar dran und es gibt eine Fernbedienung und teuer war er auch.

Und? Naja, sagt die tochter, dann hat sie sich einfach auf einen der anderen Holzstühle gesetzt, bis wir den Sessel wieder weggenommen haben.

Also sie will so schlafen, wo ist denn dann das Problem, fragt eine, und die Tochter: Naja der Sessel war teuer und bequem sieht das nicht aus, so schläft man doch nicht, das kann doch nicht…

Der Frühstücksbrei

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ilse

(In ihrem Zimmer)

Siehst du, ich zittere. Wenn das so ist, dann ist es immer ganz schlimm. Ich habe auch noch nichts gegessen heute morgen, wieviel Uhr ist denn? Ach, acht Uhr, schon so spät? Ich muss mich mal ein bisschen hinlegen. Wenn das so ist mit dem Zittern, kann ich auch nichts essen. So schlimm war es noch nie, nicht einmal früher, weißt Du.

(Fünf Minuten später, in meinem Zimmer)

Kannst Du mal kommen? Ich weiß nicht, wie der Herd angeht. Ich wollte mir einen Brei machen, obwohl es eigentlich zu früh dafür ist. Wie spät ist es? Acht Uhr? Ach ja. Kannst du den Brei machen? Ich hab hier schon den Topf stehen, ja, nein nimm ruhig den großen. Es soll ja viel sein. Ich leg mich wieder hin.

(Zwei Minuten später, in der Küche)

Was machst Du denn da, ach Brei? Das ist aber der falsche Topf. Das wird ja viel zu viel. Komm wir füllen das in den kleinen Topf. Ja, jetzt ist es besser, aber da ist ja nur ganz wenig Milch drin? Komm, wir machen da noch Milch dran. Ruhig noch mehr. Kannst Du das mal machen? Ich muss mich wieder hinlegen.

(Zwei Minuten später, in der Küche)

Kochst du jetzt den Brei? Ach, aber da ist ja viel zu viel Milch dran. Und warum hast Du denn den kleinen Topf genommen? Es soll doch ganz viel werden. Und Zucker muss da dann auch noch ran, ja? Aber ich kann eh nichts essen, kuck doch, wie ich zittere. In solch einer Anspannung, da kann man nichts essen. Ich leg mich jetzt wieder hin.

(Vier Minuten später, in der Küche)

Ist der Brei fertig? Ist er auch schön heiß? Da muss man aber auch noch ein bisschen herumrühren. Das ist ja viel zu viel! Ach, vielleicht kann man das ja auch morgen noch essen. Ich hab gerade sowieso keinen Hunger. Machst Du mir eine Schale davon? Und wo ist der Zucker? Ah, ja, in meinem Zimmer, das ist gut.

(Ich bringe den Brei ins Zimmer, zeige auf den Zucker. „Ja, danke“, sagt sie, und dass ich das Licht anmachen solle, wenn ich ginge.)

(Vier Minuten später, sie steht in meiner Zimmertür)

Du, den Brei kann ich nicht essen, der ist ja viel zu heiß, außerdem hast Du vergessen da Zucker dran zu machen. Und außerdem ist es viel zu viel. Ich leg mich jetzt wieder hin.

(30 Sekunden später Essensgeräusche aus ihrem Zimmer, fünf Minuten später, in meinem Zimmer)

Du ist noch Brei da? Aber schön heiß bitte, das tut gut und hilft auch gegen das Zittern.

Fertig

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ilse

Ein Arztbesuch mit Ilse bedeutet mindestens 48 Stunden Nettoarbeitszeit, verteilt auf fünf Wochen. Das heißt, wenn es gut geht. Wenn es schief geht, auch gern das dreifache.Zuerst einmal muss herausgefunden werden, was eigentlich fehlt. Ist es der Weltschmerz oder ist es etwas konkretes, kann das Unwohlsein irgendwie eingegrenzt werden? Das gehört streng genommen gar nicht in die Arbeitszeit, das ist ein fortwährender Beobachtungs- und Bewertungsprozeß, weil irgendwas ist eh immer, und ich kann nur hoffen und mir Mühe geben, die Schmerzen richtig von den Zipperlein zu unterscheiden, das seelische Leid vom körperlichen richtig zu differenzieren, also insgesamt zu merken, nicht nur wann etwas nicht stimmt, sondern auch was ungefähr nicht stimmt.

Hab ich einen Verdacht, ruf ich die entsprechende Praxis an. Die herauszufinden dauert bis zu einer Stunde, weil Ilse fast alle Arztunterlagen weggeschmissen hat; Ärzt*innen sind nämlich grundsätzlich scheiße, hätten auch noch nie geholfen (wie man ja sieht, der Beweis sind ja ihre jetzigen Schmerzen sowie der Umstand dass sie eigentlich schon ihr Lebtag Schmerzen hatte; da sie aber nicht mehr 20 werden kann, sind ohnehin alle Praxisbesuche überflüssig; und selbst wenn es doch Heilung gibt, wozu eigentlich, es geht ja immer was kaputt). Also: alle Unterlagen raus in den Container, wenn nirgendwo eine Diagnose geschrieben steht, ist man zwar elend, aber nicht krank. Und elend ist besser als krank, weil zweiteres im Grunde das gleiche ist wie das erste plus obendrauf der Kontakt zu den nutzlosen Ärzt*innen, die Wege, die man gehen muss, draußen in der Kälte, und was ist wenn es regnet?

Das ist Phase zwei, die Verhandlung oder eben auch die Reflektion. Da ist also was (beispielsweise ist ein Schneidezahn abgebrochen, das tut zwar nicht weh, aber Brötchen essen geht nicht mehr, und eigentlich würde Ilse schon gern mal wieder ein Brötchen essen, also vielleicht doch zu diesem Zahnarzt gehen? Aber was, wenn sie angespannt ist an dem Tag des Termins, wenn es kalt ist oder es regnet? Geht es vielleicht auch so? Vielleicht wenn sie nur weiche Kuchen isst; ja, das müsste gehen, und es geht auch ein, zwei Wochen, dann hat sie die Kuchen über, überhaupt würde sie gerne mal wieder Brötchen essen oder Fisch oder Huhn, alos vielleicht doch gehen oder vielleicht auch nicht? Ich höre zu und höre zu und nicke und nicke und sage: Ja, verstehe ich, verstehe ich. Manchmal hat sie konkrete Fragen, ob ich denn dann mitkäme zum Beispiel, ich sage: Ja, ich komme mit. Ob ich ihr helfen würde, ich sage: Ja, das mache ich. Diese Gespräche dauern insgesamt ungefähr zehn Stunden oder zwölf, je nachdem.

Die Frage, ob ich hülfe, leitet über in die nächste Phase, die der Angst und der Schuld und der Aggression. Warum sie überhaupt zum Azt müsse, was sie denn dem lieben Gott getan habe, dass der sie jetzt so quäle; warum ich überhaupt mit der Praxis gesprochen hätte, warum es überhaupt einen Termin gäbe, warum eigentlich dieser Schneidezahn abgebrochen sei, und warum sie nicht einfach sterben könne. Das sind Fragen, die mit dem Abend kommen und über Nacht bleiben; es kommt dann vor, dass sie nachts um vier an meinem Bett steht und sehr wütend wissen will, warum ich sie nicht in Ruhe ließe. Es ist, das muss ich schon sagen, nicht ganz leicht, ruhig zu bleiben, wenn man aus dem Schlaf gerissen wird, um sich eine halbe Stunde anschreien zu lassen.Am schlimmsten ist die Nacht vor der Behandlung. Heute hatten wir diesen Zahnarzttermin, und heute Nacht stand Ilse alle Stunde an meinem Bett, um mich anzuschreien, um zu wüten und zu toben. Türen werden geworfen und Teller auch, ich werde jedes Schhimpfwort gerufen, das sie kennt, und zwischendrin hält sie dann oft kurz inne, steht zwischen meinem Zimmer und ihren und murmelt zu sich selbst hin: Warum bist Du denn jetzt so, hör auf damit. Aber das kann sie nicht, sie kann sich nur kurz hinlegen; das ist allerdings phänomenal, selbst aus dem brutalsten Wutanfall heraus kann sie direkt einschlafen, dann schläft sie eine halbe oder ganze Stunde (ich, der ich länger brauche um wieder einzuschlafen, entsprechend dann zehn Minuten), und dann überkommt es sie wieder und sie kommt vorbei mit ihrer Aggression. Gegen fünf Uhr morgens dann schläft sie für zwei Stunden, ich für anderthalb, und wenn sie dann aufwacht, ist sie bester Dinge, fröhlich und auch aufgekratzt. „Wollen wir tanzen?“, fragt sie dann, geht dann in ihr Zimmer und zieht sich an; fragt dann, wann es endlich losginge; ich sage, der Termin sei erst um zwei, da verdunkelt sich ihr Blick schon wieder, „wie soll ich das aushalten“, schreit sie, ich atme. Atme. Atme. Ja, wie hält man das aus eigentlich.

Es folgen nach und nach drei Stunden Vorbereitung, welche Mütze ist anzuziehen, ah diese, aber bevor sie sie anzieht, drängt schon die nächste Frage, nämlich welcher Mantel der richtige ist, sie steht vor der Garderobe, fünf Mäntel hängen da, und sagt: „Ich kann nicht gehen, ich habe keinen Mantel“, ob ein Schal nötig ist, und welche Mütze nochmal? Außerdem hat sie Postkarten gebastelt, die will sie mitbringen, aber wo hat sie die nochmal hingelegt? Es waren drei, warum sind die jetzt weg, sie waren in einem Umschlag, nein, so kann sie nicht gehen, und was ist mit dem Schal? Habe ich keine Antwort auf die Fragen, weil ich nicht weiß welcher Schal oder mich nicht entschieden habe (es ist schwer, Entscheidungen zu treffen, wenn man so wenig geschlafen hat), schreit sie und tobt und es werden türen geworfen (aber keine Teller). Habe ich eine Antwort und gebe ihr einen Schal, sagt sie: Arschloch. Dreckssack. Mieser Kerl. Naja, denke ich, besser als das Schreien und das Toben.Zwischendurch kommt sie und fragt: Aber Du hilfst mir doch? Hilfst Du mir? Soll ich meinen Schlüssel mitnehmen? Habe ich schon was gegessen? Das sind gute Momente, denn dann weiß ich, dass wir den Termin werden wahrnehmen können. Sie zeigt mir ihre linke Hand, die zittere immer, wenn es nicht mehr gehe; die Hand ist ruhig und entspannt, dann blickt sie drauf und beginnt, sie hin- und herzubewegen. Ich nehme sie und streichle ihr den Handrücken. „Das beruhigt“, sagt sie, „aber nutzen tut es nicht.“ Und dass sie nicht gehen wolle, drei Minuten steht sie in einem ihrer Mäntel vor mir und fragt, ob es der richtige sei für dieses Wetter, und die Socken? Ob ich die Krankenkassenkarte habe?

Auf dem Weg zum Arzt beschäftigen sie bereits andere Dinge: Soll man anschließend noch einkaufen gehen, ist genug zu Essen im Haus, haben wir die Postkarten dabei? Ich antworte, sie sagt naja. Dann sitzt sie im Zahnarztstuhl, das geht schnell, weil ich vorher gesagt den Helfer*innen gesagt habe, dass wenn wir lange warten müssen, sie den kompletten Raum zusammenschreien würde (das ist nicht ganz wahr, in der Öffentlichkeit behält sie die Contenance normalerweise), und wenn ich sie frage, wie es ihr geht, kuckt sie mich kurz an, dann fängt ihre Hand an zu zittern und sie sagt: „Das siehst Du doch, wie es mir ght, Dreckssack.“Dann macht sie die Augen zu und sagt: „Warum sagst Du das immer, Ilse, lass das doch“.

Also nehme ich ihre Hand.

Es gibt gute Ärzt*innen und weniger gute, es gibt ein paar ganz ausgezeichnete, aber es ist immer zu wenig. Es gibt jene, die nicht oder nicht genau genug erklären, was jetzt passiert; die denken, es sei ausreichend zu sagen, dass erst die Betäubung komme und dann die Wurzel des Zahns gezogen werde; die nicht daran denken, dass es erst eine Betäubung gibt, dann eine Pause, dann eine zweite Betäubung, dann noch eine Pause, dann die Wurzel gezogen wird, dann aber hier und da noch herumgeschliffen wird im Mund; die nicht daran denken, wie das ist, wenn sie, den Bohrer quasi noch in der Hand, aufspringen, um zu den nächsten Patient*innen zu eilen, wenn immer wieder Helfer*innen hereingesprungen kommen und wortlos dieses zu holen oder jenes zu verräumen; jene Ärzt*innen, die glauben, mit einem lockeren Spruch sei das dann alles zu überdecken, ein Witz zur rechten Zeit sei Ausdruck von Empathie; die machen mir die meiste Arbeit. Die denken auch nicht daran, laut oder langsam genug zu sprechen, dass eine ältere Frau mit schwachem Gehör das auch versteht. Also übersetze ich, was sie sagen, beantworte in der Zwischenzeit Fragen zum Lebensmittelbestand zu Hause und höre mir Klagen darüber an, dass das doch die falsche Mütze gewesen ist.

Nach einer Stunde oder so sind wir raus, alles in allem wurden vier Zähne gezogen, Ilse ist wackelig und hat irgendwas im Hals; aber sie ist nicht wütend, nur müde. Danach wird zwei Stunden gejammert, darüber dass der Hals sich so furchtbar anfühlt und dass da Blut im Mund ist, außerdem wolle sie jetzt Huhn essen, wann das denn endlich ginge; als es dann endlich ginge theoretisch, schläft sie ein.

Auch gut. Hab ich eben Zeit, hier darüber zu jammern.

Geschlagen werden

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ilse / pflege

Wie fühlst du dich jetzt, werde ich gefragt, aber das weiß ich nicht ehrlich gesagt. Ich weiß von Zorn, von Hilflosigkeit, von Schmerz. Vor allem aber weiß ich von Leere; es ist alles dumpf. Alles um mich herum, der Schrank, das Bett, die Zimmerpfanze, ist ein bisschen weniger da. Ich fühle mich gleichzeitig auch wohl, lebendig; auf eine gedämpfte Art euphorisch; das wird das Adrenalin sein. Aber zwischen mir und der Welt ist ein Graben, den ich nicht verstehe; weil sie mich nicht versteht.

Wie hat es soweit kommen können? Es ist nicht das erste Mal, sage ich mir, ich bin schon öfter geschlagen worden; es gab eine Zeit, da wurde ich regelmäßig geschlagen. Es war mir auch klar, dass das passieren würde, dass es passieren musste; das ist so bei Demenz, manche Menschen werden dann eben aggressiv, und dass Ilse eine dieser Menschen sein würde, das weiß ich schon lange.

Aber dass es mir passiert, das ist doch; ja, es ist ungerecht. Niemand kümmert sich mehr, niemand ist – aktuell zumindest – näher dran. Ja, ich verstehe den Mechanismus: diese Nähe heißt eben auch, dass sie an mir merkt, wie hilflos sie in bestimmten Situationen ist, wie ausgeliefert sie ist; das kann natürlich aggressiv machen, das würde mich auch aggressiv machen; und natürlich bin nur ich gerade greifbar, also wird sich diese Aggression natürlich an mir entladen; und wenn ich nicht gut genug, nicht perfekt mit der Situation umgehe (wobei ja unklar ist, ob es diesen perfekten Umgang überhaupt gibt, ob man das überhaupt perfekt gehandhabt bekommen könnte, wahrscheinlich nicht), also wenn ich nicht gut genug funktioniere, das es dann – so hieß es früher immer – knallt.

Auf meiner Wange. Sie glüht nicht, sie tut kaum weh, Ilse hat keine Kraft mehr in den Armen (ich muss mich um eine Physiotherapie kümmern, fällt mir dazu ein, nicht als erstes, aber schon recht bald). Das ist nicht das Problem, das körperliche; das Problem ist auch nicht die Angst; jedenfalls nicht die direkte. In keiner Weise denke ich, dass mein körperliches Wohlergehen beeinträchtigt werden könnte, ich schreibe diese Worte wie ein Bürokrat. Sie kann mir keine Knochen brechen, und ich habe nachgesehen, alle Messer in der Wohnung sind so stumpf, dass sie nicht durch meine Kleidung kämen; jedenfalls nicht, solang sie sie führt. Es gibt Menschen mit Demenz, die in agressiven Momenten ungeahnte Kraft entwickeln, das ist bei ihr nicht so. Vielleicht, denke ich, will sie ja gerade nicht schlagen, und weiß aber nichts besseres, hat aber keine Mittel zur Verfügung, weiß aber noch, dass das Schlagen trotzdem falsch ist, schlägt dann aber doch zu, gelähmt allerdings von diesen Einwänden, die sie doch hemmen.

Die indirekte Angst aber, ja. Kann es danach jemals wieder schön werden? Ich weiß, dass das geht und auch gehen muss, was mich aber ärgert (nicht: traurig macht): es liegt an mir, dass es wieder schön wird. Ich muss die Voraussetzungen schaffen, darf nicht grollen, darf keine Entschuldigung wollen, darf nicht fordern und unangenehm sein. Ich darf mich da nicht mit mir aufhalten.

Traurig bin ich und auch wütend, aber meine Wut und Trauer soll ich nicht auf sie richten; auf wen dann? Wir sehen ja niemanden mehr, die Weltda draußen ist ein Abstraktum. Vielleicht muss ich mir einen Gott erfinden, den zu hassen sich lohnt; ich, der römische Legionär.

Eine Stunde nach dem Schlag werfe ich es ihr doch vor, dass sie mich geschlagen hat. Ich sehe, wie es sich in ihr zusammenzieht, und sie mehrereAntworten versucht: dass, wenn es denn überhaupt so gewesen wäre, ich es mir ja wohl doch verdient hätte; dass ich mich ja, wenn es denn so gewesen wäre, mich hätte wehren können; dass sie noch nie einer Menschenseele etwas zuleide getan hätte, das sei schlicht nicht in ihrem Wesen. Und bei diesem letzten Punkt denke ich, warum habe ich ihr das vorgeworfen, will ich noch härter geschlagen werden? Weil es hat sie ja etwas – ein Impuls; ein seelisches Hindernis – gehemmt, stärker zuzuschlagen; will ich das diskutieren? Oder will ich die Gründe aus dem Weg räumen, die dazu führten, dass sie schlug?

Ich weiß schon, woran es liegt, also was der Anlass war; Arzttermine, Ämterscheiß, die Stromgesellschaft will eine Rückmeldung. Sie liest die Post noch und weiß aber: Sie kann das nicht mehr. Aber diese Institutionen hören nicht auf zu fordern. Sie sind rücksichtslose, menschenverachtende Verwaltungsapparate, die Abweichungen nicht dulden. Vor allem nicht von Leuten, die ihnen nicht auf Social Media die Kanäle vollkotzen können, wenn irgendwas nicht funktioniert. Auf französisch sagt man: J’en ai ma claque, davon habe ich genug. Wörtlich übersetzt heißt es aber: davon hab ich meine Schelle. Ilse haut mir ins Gesicht, weil sie sich von diesen institutionen vorangetreten fühlt; und ich derjenige bin, der ihr das nahebringen soll; ohne Behördenstatus, ohne daraus resultierende Rentenansprüche, ganz allein halt, ohne Support.

„Ich hätte nie gedacht“, sagt Ilse, „dass Du einmal böse mit mir sein könntest“, das ist so ungefähr zwei Stunden nach dem Schlag. Ich kann ganz gut vergeben, ich suche mir die Leute aus, denen ich nicht vergebe. Darauf bilde ich mir etwas ein, ich bilde mir auch ein, dass ich das nicht verdient habe, dass ich diesen Schlag nicht verdient habe; aber ich glaube mir das nicht. Es ist eine menschenverachtende Gesellschaft, die Leute, die nicht dazupassen, jeden Tag ohne Vorwarnung schikaniert; mich schikaniert sie gerade so, dass ich damit zurechtkomme. Wenn ich nicht mehr damit zurechtkäme, und mir müsste jemand zur Seite gestellte werden, um diese Lücke zu füllen, würde ich nicht auch dieser Person mal mit Hass, mal mit Liebe, mal mit Dankbarkeit, mal mit Verachtung begegnen? Da die Welt ja nicht mehr wissen wollen würde, wie es mir geht; würde ich es nicht an den Leuten auslassen, die es aus vielen Gründen doch interessiert?

Der nächste Tag war super. Ilse war zugewandt, lustig, zärtlich schon beinah bisweilen. Es ist etwas anderes, von jemandem geschlagen zu werden, der entweder die körperliche Kraft besitzt, eine*n ernsthaft zu verletzen, oder von dem man sonstwie abhängig ist. Jenseits dieser Konstellation gibt es immer noch viele Fragen, auf die ich keine Antwort weiß.

Ich muss nur aufpassen, dass ich nicht selbst der Gott werde, den zu hassen ich mir vorgenommen habe.

(Brot)jobs und Literatur

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Allgemein

Mir hat immer Thomas Bernhards Antwort auf die Frage gefallen, was er mache. Bernhard sagte, ich zitiere aus dem Gedächtnis: „Was mich betrifft, so bin ich kein Schriftsteller. Ich bin jemand, der schreibt.“ Das ist natürlich in aller gespielten Bescheidenheit auch aufgeblasen. Eigentlich würde ich gern gar nicht darüber reden, aber weil ich oft (oder bisweilen) darüber reden muss, tue ich es eben doch.

Schriftsteller, Autor, Texter, Journalist; all diese Worte habe ich schon über mich gesagt. Immer habe ich kurz gezögert, bevor das Wort dann fiel. „Ich bin [Pause] Autor.“ Ich denke, weil ich nicht glaube, das mir das zusteht: das Wort Autor weckt Erwartungen und Vorstellungen, die ich nur enttäuschen kann. Dass ich Pfleger bin, sagt sich viel einfacher: das glaube ich mir. Da weiß ich auch, wovon ich rede.

Ich schreibe, weil das eine angenehme Art ist, Zeit mit mir selbst zu verbringen. Ich freue mich, wenn mir dann Dinge gelingen und bin traurig, wenn es nicht funktioniert. Die Traurigkeit hält nicht lange an: Versuche ich es halt später nochmal, was soll’s. Geld spielt in dem ganzen Setting gar keine Rolle – ich bin, was Finanzen anbelangt, ohnehin unangenehm ignorant, bequem eigentlich. Nicht, dass ich je zu viel Geld gehabt hätte oder abgesichert wäre, bien au contraire. Ich hasse bloß alles bürokratische, und Geld ist ungemein bürokratisch. Da ist nichts romantisches bei übrigens, ich habe vielen Leute sehr viel Kummer und Arbeit gemacht mit dieser ignoranten, kindischen Haltung; ich bemühe mich, es besser zu machen, und es gelingt inzwischen auch oft; nicht immer.

An regulären Anstellungsverhältnissen hat mir immer dies gefallen: ich musste mich wenig kümmern. Nicht um die Krankenkasse, nicht um die Rentenversicherung, und die Steuer war auch angenehm übersichtlich. Das mit dem Gehalt war auch okay, aber nachrangig. Darum ging’s nicht in erster Linie.

Das scheint mir keine verbreitete Haltung zu sein. Ich habe gerade Brotjobs & Literatur gelesen, das aus sehr verschiedenen Perspektiven erzählt, wie es sich eigentlich mit Geld und Schreiben und all dem verhält. Das erste, was mir aufgefallen ist: Erstaunlich viele der Beitragenden haben Jobs in der Pflege gemacht. Mich wundert noch ein wenig mehr, warum es so wenige Romane über Pflege gibt. Aber das nur am Rande.

Viele (oder einige) beharren darauf, dass Schreiben ihr Brotjob sei, dass es darum ginge, die Schreibenden auch entsprechend zu entlohnen. Sabine Scho ist da besonders deutlich. Mich hat beim Lesen nie der Gedanke verlassen, dass ich es lieber hätte, alle Menschen könntenund dürften sorgenfrei leben, unabhängig davon, was sie leisten. Aber es ist mir auch klar, dass das ein sehr weltabgewandter, fast verträumter Gedanke ist, aus dem sich locker eine Haltung stricken lässt, der aber kaum konkrete Effekte hat. Die andere, die kämpferischere Haltung – wir wollen im Literaturbetrieb umverteilen, wir sind auch was wert – ist, wie soll ich sagen, produktiver.

Andererseits ist es schon so, dass ich mich in dem ganzen Betrieb nie wohlgefühlt habe, dass das also vielleicht deswegen gar nicht mein Kampf ist. Am ehesten identifizieren konnte ich mich mit einigen Passagen von Karosh Taha, der dieser ganze Literaturbetrieb auch suspekt ist. „Alle kennen sich.“ Wiederum andererseits: den meisten mir bekannten Autor*innen geht das so.

Dabei kenne auch ich viele Leute, vielleicht mach ich mir da was vor. Vielleicht bin ich nur den Schritt nicht gegangen, den viele Beitragende in diesem Band sich hart erkämpft haben: zu sagen, ja, ich bin Schriftsteller*in, ich bin Autor*in. Andererseits fehlt mir völlig das Bedürfnis, dass das auch als Arbeit anerkannt wird; es ist natürlich Anstrengung, auch der ganze Klimbim drumrum, es ist Mühe. Aber Arbeit?

Nochmal Taha: „Ich weiß: Kunst ist kein Luxus, den ich mir erlaube, sondern eine Notwendigkeit; Geld sollte nicht darüber bestimmen, was ich mache, und doch entscheidet Geld über alles, und dies zu ignorieren, bedeutet die Realität zu leugnen.“ Das stimmt schon, ich leugne, und ich bin bisher damit durchgekommen, für mich hat der Hahn noch nicht dreimal gekräht. Bloß wenn ich das dann umfassend erkannt habe, werde ich dann überhaupt noch schreiben wollen? Kann ich mich diesen Zumutungen, diesem gewogen werden nirgendwo entziehen?

Aber wie billig ist dieses sich entziehen; vielleicht, weil ich ganz früher träumte so zu leben wie diese Held*innen der Romane aus dem 19. Jahrhundert, und diese Träume mich dazu verleitet haben zu glauben, dieses sorglose, unstete Leben stünde mir auch zu. Tut es nicht; mein Ausweg war die Pflege. Wohl auch eine Flucht, oder eine Befreiung, kommt drauf an.

Okay, ich muss noch ein paar Rechnungen schreiben, die seit Monaten erledigt sein könnten.

Helfen dürfen

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ilse / pflege

Ilse kehrt den Hausflur. Damit flucht sie viel, und zwar auf alle: auf die beschissene Hausverwaltung, die sich nicht um die Sauberkeit des Treppenhauses schert; auf die Arschlöcher von Mitmieter*innen, die den ganzen Dreck hereingetragen haben; auf diesen einen Dreckssack, der ihr vor zehn Jahren mal krumm gekommen ist, auf den besonders, dieses arrogante Stück Scheiße.Es ist alles besser als vor zwei Stunden; vor zwei Stunden war sie nur traurig. Sie sagt dann immer dreieinhalb Sätze: Ich will nicht mehr leben. Ich kann nicht mehr. Es ist genug. Wenn ich doch nur so eine Pille hätte! Es ist viel besser, wenn sie schimpft. Sie ist auch viel erreichbarer, wenn sie schimpft: Wenn ich dann einen Witz mache, lacht sie kurz und macht dann selber einen, um mich zu übertrumpfen. Und dann hat sich mich übertrumpft, und darüber freut sie sich dann, und dann schimpft sie wieder zwischendrin, sie schimpft einfach auch gern. Wenn sie traurig ist und ich mache einen Witz, sagt sie nur müde: „Das ist nicht zum Lachen, ich sterbe hier.“ Und auch das ist wahr auf eine Art. Aber auf zweiteres kann ich einfach nichts antworten, weil es nichts zu antworten gibt.

Ich bin jetzt in einigen Selbsthilfegruppen für Angehörige von dementen Menschen, und täglich schreiben da Leute rein, dass sie gerade neu beigetreten sind und nicht wissen, was sie tun sollen. Sie wollen helfen, sagen sie, aber wie? Je weiter sie weg sind von den Menschen, desto dringlicher ist es ihnen, helfen zu dürfen, aber wie? Wie kann man helfen bei einer Krankheit, die ohnehin einen schlimmen Verlauf hat, in einem Zustand, der sich immer weiter verschlechtert?Ich bin jetzt so um die vier Wochen hier, ich weiß noch nicht sehr viel, ich lerne noch, und das täglich. Eine Sache aber habe ich begriffen: Helfen kann man nicht erzwingen. Helfen zu dürfen ist ein Geschenk. Und zwar in beide Richtungen.Kurzer Perspektivwechsel: Ich hatte selbst mit Anfang 20 eine schwere Erkrankung, die mich lange Zeit hilflos zurückließ, inklusive Lähmungen am ganzen Körper und Bettlägrigkeit usw. und mich seither immer wieder mal eingeholt hat, wenn auch nicht ganz so dramatisch wie beim ersten Auftreten.

Seither hasse ich die Frage, wie es mir geht, sofern sie ernst gemeint ist; ich habe Familienmitgliedern verboten, sie mir zu stellen, gerade jenen, die besonders besorgt sind (und weit weg wohnen); weil immer die Anschlussfrage kam, wie es mir denn aber wirklich geht, sie wollen mir dann direkt in die Seele kucken, und sie meinen es ja nur gut, da hab ich zur Verfügung zu stehen. Sie machen sich ja Sorgen, deswegen haben sie ja ein Anrecht darauf, alle Geheimnisse meines Zustandes mitzuprotokollieren; und es ist auch schwierig zu verstehen, dass ich das nicht unbedingt mit ihnen teilen will, auch nicht unbedingt darüber nachdenken will in just diesem Augenblick, dass ich diese Frage im Grunde für eine Unverschämtheit halte, weil was wäre die Konsequenz daraus, wenn ich sagte: „Ausgesprochen schlecht“? Sie wollen es wissen, weil es ihnen hilft. Das wäre auch okay, wenn es nicht um mich gehen würde, aber so? „So war das aber nicht gemeint“, kann ja sein. Wie war es denn gemeint? Und dann beginnt die Diskussion, für die ich keine Kraft habe, wenn es nicht gut geht, und keine Lust, wenn es mir gut geht.

Wer krank ist, hat immer das Gefühl: Ich kann nicht mehr genug, ich weiß nicht mehr genug, ich bin nicht mehr genug. Die größte Hilfe ist, dieses Gefühl zu durchbrechen; und das heißt eben auch, sich helfen zu lassen. Das mag am Anfang ein bisschen gekünstelt aussehen, aber nicht, weil es gekünstelt ist: sondern weil Gesunde überhaupt erst lernen müssen, sich von sogenannten Kranken helfen zu lassen.

Oft sind es Kleinigkeiten. Sich irgendwas erklären lassen, warum ist dieser Strich, den Du gemalt hast, krumm, warum blau? Welches ist die beste Milch, und wo kann man sie kaufen? Wie funktioniert diese Apparatur, die da neben Dir steht, und übrigens, mir läuft die Nase, was machst Du immer dagegen?Ilse sucht sich ihre Aufgaben, freilich, das ist an manchen Tagen schwieriger als an anderen, aber der Impuls ist da: sie tut etwas, sie weiß etwas, sie hilft. Sie teilt ihr Wissen gern mit mir, und je häufiger ich sie nach Dingen frage, desto häufiger fragt sie mich auch nach Dingen. Vielleicht lerne ich nur selten lebenspraktische Dinge, die ich noch nicht weiß, aber ich lerne etwas ganz anderes: wie wir zusammen zurecht kommen. Das ist nämlich etwas, da haben wir beide kein Expert*innenwissen, das müssen wir zusammen herausfinden, da kommt es auf uns beide an.

Ich würde allen Angehörigen in diesen Gruppen gerne raten: Wenn ihr helfen wollt, ist das toll, aber helft ein bisschen weniger und verwendet mehr Energie darauf, euch helfen zu lassen. Zeigt den Menschen, denen ihr helfen wollt, dass sie fähig sind – nicht zu allem, das wäre gelogen. Aber zu den Dingen, die sie tatsächlich können.

Und wenn sie fluchen, lasst sie fluchen, Herrgottnochmal.

Wie ich einmal für die Sexualaufklärung einer ganzen Schulklasse gesorgt habe

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dorfjugend

Ich bin im Allgäu aufgewachsen, auf dem Dorf. Es ist ein sehr katholischer Flecken Erde, an jeder Straßenkreuzung sprießt ein Flurkreuz. Ich habe dort Bürgermeisterwahlkämpfe erlebt, da haben Kandidaten versprochen, ihre Freundin zu heiraten, weil ein Pfarrer in einer Sonntagspredigt moniert hatten, dass sie in Sünde lebten. Und das waren nicht die chancenlosen Schießbudenfiguren, sondern die Leute von der CDU.

Es ist auch ein sehr reicher Landstrich. Es ist ein Doppelgaragen-Landstrich, wo es normal ist, dass Familien mit zwei Kindern auf 400 qm leben; und wenn das zu eng wird, bauen sie den Keller aus. Ich bin eher arm aufgewachsen. Viele Freund*innen bekamen ihre 50 Mark Taschengeld im Monat, da hatte ich zehn oder vielleicht zwanzig. Ab der siebten Klasse kam dann noch Nachmittagsunterricht dazu zweimal die Woche, da hab ich mir davon dann oft Mittagessen gekauft. Meine Mutter hat mir freilich immer belegte Brote mitgegeben, aber ich wollte halt auch die ganze dekadente Scheiße fressen, die alle anderen auch gefressen haben: belegte Seelen, Leberkäswecken, hinterher eine Müller-Milch Banane. Ich wollte halt leben wie die.

Also musste ich improvisieren. Damals lasen viele Klassenkamerad*innen Bravo, Bravo Sport, Playboy und aber auch solche pornografischen Blätter wie die Praline. Es war nämlich so, dass unsere Biologie-Lehrer*innen, zumindest die älteren, alle auch erzkatholisch waren. Deswegen schoben sie den Aufklärungsunterricht jedes Jahr ganz ans Ende des Jahreslehrplanes, um dann – jedes Jahr aufs Neue – festzustellen, dass jetzt gar keine Zeit mehr wäre für diesen ganzen Schweinkram. Ich bin, glaube ich, ernsthaft aufgeklärt worden erst in der elften Klasse. Das waren die 90er auf dem Dorf im Allgäu.

Jedenfalls gab es ein Kaufhaus, das hieß auch noch Kaufhaus X, und da lagen diese ganzen Hefte in einem Seitengang aus. Ich hatte schon früh gelernt, dass wenn ich das gleiche wollte wie die anderen auch, ich es mir nehmen musste, weil geben würde es mir niemand. Also ging ich eines Tages, es muss in der achten Klasse gewesen sein, während einer großen Pause dorthin und klaute mir eine Bravo. Es war ein Freitag, wir hatten danach nach der fünften Schluss, und ich musste eine Stunde auf den Bus warten. Also zeigte ich den anderen, mitwartenden Kindern das Heft. Die machten Augen und danach machten sie Worte, und diese Worte sagten: Kannst Du uns nicht auch sowas besorgen?

Na klar konnte ich. Über die kommenden Wochen ging ich jeden Freitag in der großen Pause ins Kaufhaus X, um dort die Hefte zu besorgen. Ich hatte einen Bestellzettel dabei, der in der Stunde vor der Pause herumgereicht worden war, auf dem Stand dann: Bravo soundsoviele, Bravo Sport ein paar weniger, Playboy ein paar und dann noch Coupé oder sowas. Zu Hochzeiten müssen das so 15 Bestellungen gewesen sein pro Freitag. Ich war sehr geschickt, ich bin nie erwischt worden, obwohl das sicher einige Monate so ging. Ich nahm die Hälfte des nominellen Preises und hatte ein gutes Auskommen.

Bis zu diesem ominösen Freitag im Frühsommer.Nach der großen Pause hatten wir immer Musik bei Herrn Büchele. Normalerweise war es so, dass ich ganz knapp zu Beginn der Stunde wieder da war und dann während der Stunde die Hefte verteilte, sie wurden durch die Reihen gereicht, bist sie ihre Destination fanden. Herrn Büchele war aber über die Zeit aufgefallen, dass wir eine sehr unaufmerksame Klasse waren, die gerne und viel in irgendwelchen Schulheften las und nicht dem Unterricht folgte. Da stimmt was nicht, dachte sich Herr Büchele, und kündigte just an diesem Freitag eine Schulranzenrazzia an, um ebenjenen Lesestoff, der obendrein oft zu Gekicher und Unruhe führte, zu beschlagnahmen.

Da saß ich nun mit meinen 15 Heften, während er am anderen Ende der Klasse begann, die Schulränzen zu filzen. Glücklicherweise saß ich direkt an einem Fensterplatz, also nahm ich die Hefte und warf sie, während Herr Büchele die Nase in einem der Ranzen hatte, aus dem Fenster. Unglücklicherweise befand sich der Klassenraum im Erdgeschoss, obendrein war die Fassade vollverglast, das heißt: alle konnten die Hefte sehen. Ein wenig Wind ging, der sanft durch die Seiten blätterte.

Um mein Pech komplett zu machen, hatte Herr Büchele meine Entsorgungsaktion sofort zur Kenntnis genommen und stand in keiner Zeit vor meiner Nase, um mich zu fragen, was ich da aus dem Fenster geworfen hatte. Ich stammelte dies und das, merkte aber, dass ihn das nicht sonderlich beeindruckte, stand dann auf und sagte: Ich schau selber nach, was das war. Dann sprang ich in einem Akt der Verzweiflung aus dem Fenster, stellte mich direkt auf die Hefte und sagte: „Ich kann gar nichts sehen, was da sein soll.“

Die ganze Klasse war mir ans Fenster gefolgt, alle diese Arschlöcher kicherten und lachten und manche schrieen sogar: „Du stehst doch drauf!“ Herr Büchele besah sich das Spektakel schweigend und sagte dann: „Jetzt gib schon her.“Seufzend reichte ich ihm, worauf ich bisher gestanden hatte, drehte mich einmal weg von der Fensterfront voller hämischer Gesichter. Weiter hinten saß eine Schülerin aus einer höheren Klassenstufe, die zumindest den finalen Akt des ganzen Dramas miterlebt hatte, und sah mich fragend an. Ich sagte: „Was für eine Scheiße“, mehr zu mir als zu ihr, und sie antwortete: „Kopf hoch, Alter, alles geht vorbei“. Das war Nelly, sehr viel später sollten wir gute Freund*innen werden.

Herr Büchele besah sich, was ich ihm gereicht hatte, und bat mich dann, wieder zurück ins Klassenzimmer zu kommen. Dann fragte er, für wen die ganzen Heften seien, und ich sagte: „Für mich. Das sind meine.“ Er glaubte mir natürlich kein Wort, und dann begann er die Klasse zu befragen, was wir eigentlich über Sexualkunde wussten. Mir war das hochnotpeinlich, aber es war genau das richtige, weil er damit alle Aufmerksamkeit von mir abzog. Es gab ein großes Oho in der Klasse, und viele begannen dies und das zu erzählen, vor allem die zwei, drei Bauerskinder in der Klasse wussten überraschend viel, sie wählten allerdings eine ziemlich drastische Ausdrucksweise. Sie hatten das alles halt auch schon live gesehen, halt an Tieren, aber je. Herr Büchele erklärte, was wir für fragen hatten, wahrscheinlich hat er das anschließend lehrplanmäßig unter Carmina Burana verbucht. Nach der Stunde hielt er mich unauffällig zurück.

„Geh nicht mehr klauen, dann schau ich, dass das unter uns bleibt“, sagte er. Ich nickte. Mehr sagte er nicht. Ich sollte mich ein halbes Jahr an unsere Abmachung halten.

Drecksland

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ilse / pflege

Nachts um zwei ist wieder was los. Mein Zimmer grenzt an die Küche, und Tag und Nacht haben für Ilse nur noch marginale Bedeutung; häufig kriegt sie nachts um zwei Lust auf, sagen wir mal, eine heiße Milch. Blöderweise steht keine heiße Milch im Kühlschrank, man braucht einen Topf – den alten, verbeulten, blankgescheuerten am besten, in dem wird schon seit Jahren, vielleicht auch Jahrzehnten die Milch heiß gemacht.

Dazu braucht es auch den Herd, ein altes Ding, das noch mit Gas betrieben wird, und der keinen Anzünder hat; man muss ihn mit dem Feuerzeug entflammen. Außerdem ist er widerspenstig, das Feuerzeug muss schon im richtigen Abstand zum Ventil gehalten werden, im richtigen Winkel sowieso, und das ist eben schwierig, wenn die Hände zittern und die Ungeduld wächst.Es dauert nicht lang, bis Ilse das erste Mal ein enerviertes „Du Scheißding“ entfährt, und dann dauert es noch kürzer, bis sie es ein zweites Mal sagt. „Geh endlich an, Du Scheißding!“ An guten Tagen – an guten Nächten vielmehr – bleibt es dabei. Irgendwann klappt das alles schon, und am nächsten Morgen ist dann alles wie immer, bloß mit zwei drei Milchflecken auf dem Herd.

In schlechten Stunden aber ist der erste Fluch nur der Riss im Damm, und es drängt immer mehr Gefühl und Frustration heraus, warum die Scheiße nicht so will, wie sie soll, warum eigentlich alles so gottverdammt schwer geworden ist, was zur Hölle das alles eigentlich noch soll.

Und wenn der Damm erstmal gerissen ist, dann bleibt es auch nicht bei der Scheißigkeit des Herdes, schließlich ist dieser Herd nicht die einzige Zumutung; nein, die Scheißtabletten, die nichts nutzen, fliegen dann in die Ecke, und bald wird ein Fluch zum Himmel geschickt – „Der liebe Gott, ja, wie kann der das machen, man muss ja blöde sein, um an einen Gott zu glauben, der ist ein Schwein, eine Dreckssau…“ Hier hält Ilse kurz inne. „Nein“, sagt sie dann, „Schweine sind nicht so, die Schweine können nichts dafür.“ Aber es ist nur eine kurze Unterbrechung, und es ist im Grunde egal, ob der Herd nicht funktioniert oder der Faden nicht durchs Nadelöhr will oder ein Brief, der wieder viel zu klein gedruckt ist, gekommen ist, obwohl sie eine Postkarte erwartet hat; schuld ist Deutschland, dieses Drecksland, das voller Nazis ist, immer schon war und immer so zivilisiert tut. „Wie kann ein Land sich zivilisiert nennen“, fragt sie, „und ich habe einen solchen Herd? Dieses Drecksland, diese Arschlöcher alle, meinen sie wären sonstwer!“ und mal ganz im Ernst: wer könnte da widersprechen. Ich nicht.

Schmerzen

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ilse / pflege

Ilse hat Schmerzen. Es ist schwer, Schmerzen zu beurteilen, man ist leicht dabei zu sagen: sie sind real oder nicht. Symptom oder Ursache. Oder halt beides.

Ich weiß, dass sie manchmal Symptome vorspielt. Die zitternde Hand zum Beispiel ist eins ihrer Lieblingsstücke. Ihr geht es nicht gut, und dann sagt sie: „Siehst Du, wie meine Hand zittert! Dann ist es immer besonders schlimm.“ Sie schaut auf ihre Hand, keine sieben Sekunden später fängt sie zu zittern an, erstmal ganz grob, als würde man sie hin und herbewegen unter dem Strahl eines Wasserhahns, um zu sehen, wie warm das Wasser tatsächlich ist; später schneller; irgendwann so schnell, dass es von einem Zittern nicht mehr zu unterscheiden ist (anders gesagt: ein Zittern wurde).

Ist auch ehrlich gesagt völlig egal. Ist das jetzt gespielt oder nicht? Spielt sie, Schmerzen zu haben, hat sie sie, hat sie so lange Schmerzen gespielt, bis sie sie hat? Tut ihr Körper weh, weil der Rest nicht funktioniert, ist es andersrum? Was heißt: funktionieren? Was ist der Körper, was der Rest? Welchen Grund sollte man auch haben, so lange Schmerzen vorzuspielen, bis man sie hat?

Was sind das für Fragen? Sie sagt sie will sterben, das sagt sie oft. Ich nicke. Sie sagt: Ich bin kein Mörder. Ich sage: Mörderin. Sie sagt: Auch kein Selbstmörder! Ich sage: Selbstmörderin. Sie sagt: Was? Ich sage: Ich bin auch kein Mörder. Sie sagt: Ein Glück für mich. Ich lache, und wir haben beide Glück, wir mögen uns. Also lachen wir beide.

Freund*innen fragen mich, wie und warum ich sowas aushalte, wie ich das mache; das klänge aber nicht gesund. Aber jede*r weiß, dass diese Schmerzen existieren, dass es all das gibt. Das weiß man doch, das gibt es. Irgendwer kümmert sich schon, irgendwie.

Kann ich das einfach ignorieren? Die, die es nicht können, sollen sich nicht schuldig fühlen. Aber sie sollen auch nicht denken, dass ihr Erfolg sie adelt.Ilse hat Schmerzen, ich auch; warum tue ich das, warum lebe ich so, naja: alles andere wäre sinnlos.