Stifte

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ilse / pflege

Es gibt gute Tage, die sind deutlich in der Überzahl. Und es gibt schlechte Tage. Heute war ein schlechter Tag.

Was ganz genau es ist, weiß ich nicht; vielleicht die Schmerzen, vielleicht die Depression, vielleicht die Einsamkeit, vielleicht (wahrscheinlich) alles drei. Sie schreit und ruft und das sind unter den schlechten die guten Momenten, die schlechten sind, wenn sie nur noch lamentiert; ach ja, das war einmal ein schönes Wort gewesen, das Lamento, eines, das etwas bedeutet hat; und jetzt ist aber eine giftige Ironie hineingesickert, um jene, die lamentieren, zu desavouieren. Es ist die Ironie der Gesunden, die sich nicht mit jenen auseinandersetzen mögen, die nicht so gesund sind, denen es schlecht geht, die leiden.

Ilse leidet, das ist klar.“Ich will nicht mehr. Ich mag nicht mehr. Ich will sterben, aber ich bin kein Mörder“, schreit sie, mit dieser Stimme, die nicht kraftlos ist, aber gedeckt, eine Stimme, die keine schrillen Töne mehr kann, und dann kuckt sie mich an und sagt: „Es tut mir leid, es tut mir leid. Ich weiß, Du kannst nichts dafür.“

Es ist ein Wahn, ein Todeswahn, aber gleichzeitig ist er real, oder anders: er ist existenziell. Ich weiß nicht, was sie nicht kann, sicher kann sie vieles nicht mehr, oder anders: vielleicht merkt sie, dass nicht mehr gebraucht wird, was sie noch kann, vielleicht merkt sie, dass etwas schwindet, aber was? Weiß sie was?“Und das nennt sich Staat! Das nennt sich Gesellschaft!“ Sie drückt sich noch sehr gut aus, sie durchschaut alles (nur nicht sich selbst, das wäre auch fatal). Sie war selbst lang genug Teil des Ganzen, hat sich nicht gekümmert, hat sich nicht gesorgt, hatte sich im Blick und sonst niemanden. Wenn ich ihr jetzt Bilder von sich selbst zeige, ist sie gerührt. „Ach, wie die Ilse da kuckt! Da ist sie traurig, und da lacht sie.“ Das sagt sie über sich. Es stimmt, was sie sagt, aber etwas daran stimmt nicht. Vor nicht einmal fünf Jahren hat sie einen sehr wichtigen Preis gewonnen, da kamen viele Karten. Besuche aber kommen nicht mehr. Einmal die Woche die Schwester, alle drei Wochen eine alte Freundin, die selber kaum noch kann und deswegen nur dann vorbeischaut, wenn der Sohn Zeit genug hat, sie zu fahren. Einmal die Woche eine Tschetschenin, die früher die häusliche Pflege besorgt hat, aber dann selbst familiäre Verpflichtungen hatte. Und die jetzt vielleicht oder vielleicht auch nicht bezahlt wird, um vorbeizukucken einmal die Woche abends, so wie ich bezahlt werde.“Es hat keinen Sinn. Wozu das ganze noch? Ach, wenn Du nur ein Gift hättest, dann wärst Du zu etwas nütze!“ (Pause) „Es tut mir leid, Du kannst nichts dafür.“

Wie lang hab ich noch, bis ich was dafür kann? Drei Stunden sitze ich da, sie schimpft und wirft mit Büchern und versucht zu weinen, aber es kommen keine Tränen. Erst schimpft sie auf Freund*innen, aber das nimmt sie dann wieder zurück; vielleicht hat sie Angst, dass ich es weitersagen könnte, oder dass sie sich selbst verraten könnte. Ein enger Freund macht gerade ein Buch, und sie kann nicht verstehen, warum das so lange dauert; warum er so lang nicht kommt. Dann schimpft sie los auf die Staaten, auf Hitler und Stalin und die Deutschen und die Franzosen, dann hält sie inne: „Über die Briten kann ich nichts sagen, dazu weiß ich nichts.““Auch die Briten waren schlimm“, sage ich, und erzähle vom Burenkrieg, von Indien und von den Massakern in Zimbabwe.

„Ach, und sowas weißt Du?“ Sie klingt ehrlich überrascht, sie fragt nach, es interessiert sie, aber irgendwann sticht wieder ein Schmerz, blutet die Seele, und etwas verzweifelter bricht hervor.

Und dann schreit sie wieder oder lamentiert oder ist wütend oder verzweifelt oder angstvoll oder. Sie sieht den Becher voller Bleistifte neben sich am Bett und sagt: „Ich will aber nicht mehr zeichnen, ich schmeiße das jetzt weg!“

Okay, sage ich. Sie wird sie in den Hausflur schmeißen und ich werde sie auflesen, so wird das werden.

„Oder willst Du sie vielleicht haben?“Ja, gerne, sage ich, und dann denke ich: Vielleicht muss ich jetzt mit dem Zeichnen anfangen. Vielleicht ist das jetzt der Moment dazu.

Drei Kreuze

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dorfjugend

Ich hasse Kirchtürme. Es ist kein abstrakter Hass, er ist biografisch erworben. Als ich 17 war, wollte ich den Führerschein machen; dafür brauchte ich Geld; also musste ich arbeiten gehen. Am meisten Geld gab es bei einem Stukkateurbetrieb, Gerüstbau, alles klar, dachte ich, dann halt das.

Ich bin, nunja, eher schmal. BMI um die 20. Unteres Normalgewicht, im allgemeinen unauffällig. Als ich aber am ersten Arbeitstag auf dem Parkplatz stand, morgens um sechs, und nach und nach die Stammbelegschaft eintrudelte, kam ich mir bald vor wie ein Streichholz im Wald. Alle diese Leute waren zwei Meter breit, keiner wog unter 80 kg. Verstohlen sah ich mich um, sie aber beachteten mich nicht.Ich wurde einem Sprinter zugeteilt, und der Capo – so sagte man da – winkte mich zu sich her. Er war ein Zwergberg, kaum einssechzig groß, und er aß von seiner Orange. „Bisch Du an Bombeleger?“, Sagte er, und ich sah ihn fragend an. „Wäge de Hoor moini“, sagte er und zeigte auf meinen Pferdeschwanz. „Bisch au oiner von der R.A.F.?“ Ich schüttelte wortlos den Kopf, gar nicht mal so sehr Überraschung, sondern weil ich morgens um sechs nicht spreche. Wir fuhren nach Bad Wurzach, 25 km, und zuverlässig alle fünf Kilometer schob sich der Capo einen Orangenschnitz in den Mund. Draußen nieselte es, und es ging auch, was ich bis zu diesem Tag als „ein bisschen Wind“ bezeichnet hätte; am Ende des Tages würde ich diese Wortwahl gründlich überdacht haben.

Die Hauptkirche von Bad Wurzach ist der Heiligen Verena gewidmet, der Name bedeutet so viel wie „die Behutsame“. Ich glaube nicht, dass der Capo je von ihr gehört hatte. Wir waren zu sechst, der Kirchturm wird wohl über 30 Meter hoch gewesen sein, jedenfalls war er dreiviertel eingerüstet und das hieß 13 Stockwerke. „Bombeleger!“, rief der Capo, ich stand zwei Meter neben ihm und hörte den Schall seiner Stimme trotzdem aus fast jeder Richtung. Ich weiß nicht wieso, aber overly manly men hatten mir gegenüber immer das Bedürfnis, besonders overly zu sein. Wahrscheinlich habe ich deswegen zwischen 15 und 25 ungefähr alle halbe Jahr aufs Maul bekommen, aber das sind nochmal ein paar andere Geschichten. „Ja“, sagte ich.

„Du gosch auf die dritte Etage“, das letzte Wort sprach er aus, als sei jeder Vokal etwas ganz besonderes. É – tá – gé.Ein Glück, dachte ich, nicht ganz oben, und kraxelte auf Ebene drei. „It do!“, schrie der Capo, die Umstehenden lachten oder schüttelten angewidert den Kopf. „Dritte von obe!“ Damals hatte ich noch keine Höhenangst, im Gegenteil, ich genoss es, ins Land hinaus zu blicken. Wenn man hoch genug steht, dachte ich, ist es möglich, viel zu überblicken. Besonders gern las ich damals Die Zeit.

Das Seitenteil eines Gerüstes wiegt zwischen 15 und 18 Kilo, ein Querbrett um die zwölf. Oben stehen zwei Mann und bauen ab, dann reichen sie die Bauelemente nach unten. Sie müssen dazu auf die Knie gehen, weil die Elemente über zwei Ebenen weitergegeben werden, zumindest am Anfang (je fortgeschrittener der Abbau, desto weniger Ebenen bei gleichbleibender Arbeiterzahl, liegt ja auf der Hand).

Was allerdings gar nicht auf der Hand liegt, sind diese Bauelemente. Auch wenn sich die oben mühten, so tief wie möglich in die Knie zu gehen vor der heiligen Verena, bekam man nur den unteren Rahmen zu fassen. Schlimmer als die Seitenelemente waren allerdings die Bretter, in denen der Wind sich fing, an ihnen zerrte, dass man bisweilen zwei Schritte zur Seite machen musste wie ein betrunkenes Schiff, um wieder in die Balance zu kommen. „Bal-ons“, hätte der Kapo gesagt.Glücklicherweise waren diese Bauteile nicht glatt; es gab Überreste von Stuck daran, Bauschaumrückstände, Spritzer von getrocknetem Beton („Betong!“). Deswegen trugen wir auch alle Handschuhe. Das schönste an meinem Körper sind meine Hände, feingliedrige, elegante Klavierspielerfinger, geäderte Handrücken, ausdrucksstark und edel. Die Handschuhhersteller*innen aber hatten beim Entwurf ihres Produktes allerdings eher jene Pranken meiner Kollegen im Kopf, die sich leicht zu Fäusten ballen lassen; obendrein hatte es nach kurzer Zeit zu nieseln begonnen, was die – wasserabweisenden, weil als hochqualitativ vermarkteten – Handschuhe besonders glitschig werden ließ. Kurzum, ich sollte nach kurzer Zeit ebendas denken, was ich immer wieder gedacht hatte, als ich mit Billigschuhen auf meinem Billigskateboard stand: die Scheißdinger haben überhaupt keinen Grip. Ich kann von Glück reden, dass das nicht mein letzter Gedanke war. Nach zehn Minuten brannten meine Armmuskeln, „wie d’Hölle“, nach einer Viertelstunde spürte ich meine Beine nicht mehr, nach zwanzig Minuten glitt mir das erste Brett aus der Hand und krachte einige Meter weiter unten in den aufgeweichten Boden. „Heilandsack!“, schrie der Capo, vielleicht veranlasste das die heilige Verena, die ein Leben lang keusch geblieben war, das leichte Nieseln in einen unangenehm kalten Regen zu verwandeln. Zehn Minuten später entglitt mir ein Seitenteil, während ich es nach unten reichen wollte. Unglücklicherweise hatte ich den Kopf zwischen Unter- und Oberstrebe gesteckt, so dass es mir direkt auf die Halswirbelsäule rauschte. Glück für mich, dass es nur zehn Zentimeter Fall hinter sich gebracht hatte, sonst… Naja. Sonst hätte mich ein Ende ereilt, das einem Franzosen mit distinguierten Händen im ausgehenden 18. Jahrhundert blühte. Ich hätte ein Anachronismus werden können.

Während ich aufgrund des Malheurs einigermaßen besonnen in den Querstreben hing, wurde es um mich still. Etwas verzögert erst begann unten der Capo zu fluchen und zu toben. Ich hätte an diesem Tag viele neue alemannische Schimpfwörter lernen können, wäre mein Hirn weniger mit Strategien, die das schiere Überleben garantieren, beschäftigt gewesen.Er beorderte mich nach unten und stieg selbst in die dritte É – tá – gé. Erst Jahre später fand ich heraus, warum er das nicht von Anfang an gemacht hatte. Das lag an den Orangenstücken; er war halt nicht sehr trittsicher. Mehr sag ich nicht.

Unten angekommen, wähnte mein Körper sich in Sicherheit und stellte die Adrenalinproduktion ein. Ich ließ also ständig runtergereichtes Zeug in den inzwischen angeweichten Boden fallen und achtete darauf, dass mein Hals nicht im Weg war. Um zehn war dann Frühstückspause, die wir im Auto verbrachten. Der Capo zitierte mich nach vorne, in das Führerhäuschen des Sprinters, und ich dachte – obwohl ich natürlich sofort an eine schmachvolle Kündigung hätte denken sollen – nichts. Ich war einfach nur glücklich, überlebt zu haben.

Ich setzte mich auf den Beifahrersitz des Sprinters und wartete, bis der Capo seine letzten Anweisungen verbrüllt hatte. Dann setzte er sich neben mich, kramte in seiner Tasche, nahm sich einen Wurstwecken heraus und eine Bildzeitung, schlug die vorletzte Seite auf und sagte: „Du wirsch doch amol an Schtudierter, kaschmer helfe?“ Und zeigte auf das Kreuzworträtsel.

Ich habe ihm geholfen, ich wünschte, ich wüsste die Worte noch, die ich für ihn fand. Das wäre eine schöne Pointe. Aber weiß ich nicht mehr, ich weiß nur noch, wie die restlichen 20 Tage waren und warum ich schlußendlich doch nie den Führerschein machte. All das aber ein andermal, jedenfalls hasse ich Kirchtürme.

Peinland

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dorfjugend

Am 06. April 1941, vor 80 Jahren hat Deutschland Griechenland überfallen. Ich hatte einen Onkel – er war kein Familienonkel, er war ein Freund meiner Großeltern – der an dem Überfall teilnahm, und zwar in einer Einheit – ich habe das später mal nachgschlagen – die Partisanen bekämpft hat. Er hat die Zeit dort sehr genossen und wäre wohl nie das geworden, was er wurde, hätte er nicht damals an dieser Operation teilgehabt. Partisanen bekämpft, das heißt so viel wie: Dörfer angezündet, Zivilist’innen erschossen, gemordet, gebrandschatzt, vergewaltigt, es heißt Kalavryta, Kefalonia, Klissoúra, Kesariani, Distomo und Chortiatis. Onkel Leo – so hieß er – wurde später Lehrer, Latein und Geschichte, an einem humanistischen Gymnasium. Ich weiß das, weil ich unfassbar schlecht in Latein war. Ich müsse das irgendwie wieder reinholen, hieß es, also wurde ich dahin geschickt, ich war dreizehn, glaube ich, zwei Wochen während der Faschingsferien saß ich mit meiner Großmutter in diesem Haus fest, tagsüber Ablativus abolutus und abends dann die Karnevalssitzungen im ZDF und den Dritten. Dazwischen Abendbrot, mit Vorträgen darüber, dass die Jugend nichts mehr tauge und Zucht und Ordnung fehle in unserer Zeit. Vorträge über das antike Griechenland auch, über die Ruinen, die er besichtigt hatte – die tausende von Jahren alten Ruinen, nicht die frisch abgebrannten Dörfer, die er auch gesehen haben muss. Die er wahrscheinlich selbst geholfen hat mitanzustecken. Ganz zum Schluß war er noch in Russland gewesen, dort ist er auch gefangengenommen worden, und eigentlich ist das die einzige Anekdote, die er aus dem Krieg erzählt hat: wie sie zwei Wochen nichts zu essen bekommen hatten, und man ihnen dann Sauerkraut vorgesetzt hat, kiloweise Sauerkraut, und sie dann durch die Straßen Moskaus hat marschieren lassen mit dem Sauerkraut, das durch ihre Därme jagte, sie immer weitergetrieben wurden furzend und scheißend und stinkend, die stolzen Herrenmenschen. Das sei sehr schlimm gewesen, sagte er immer und beugte sein Haupt in Demut vor dem eigenen Schicksal, bevor er wieder darüber erzählte, dass Hitler auch nicht alles und so weiter. Tausende von Schüler’innen hat er unterrichtet, mich auch, wenn auch nur zwei Wochen lang, in einer Stadt namens Peine, die diesen Namen eo ipso völlig zurecht trägt, das ganze Land sollte so heißen. Peinland. Warum nicht.

1 2 Polizei oder Warum ich keinen Führerschein habe

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dorfjugend

Dass ich schlussendlich doch nicht den Führerschein gemacht habe: dafür mache ich die Erfinder*innen von Übergangsjacken verantwortlich.

Ich besaß zu jener Zeit, also mit 17, drei Jacken: eine für den Winter, eine für Regen und eine aus Stoff. Letztere war hellbeige, fast weiß, und vor allem hatte sie acht Taschen. Ich nutzte sie fast nie, auch weil es mir wie ein unnötiger Luxus vorkam: bis heute weiß ich nicht, warum man überhaupt mehr als zwei Jacken braucht.

Es war damals üblich, als Jugendliche*r zu kiffen; ich glaube, das ist immer noch so. Drogen spielen auf dem Land eine viel größere Rolle als in der Stadt, scheint mir; möglicherweise liege ich auch falsch, es ist reine Privatempirie. Im Allgäu war ein größerer Drogenumschlagplatz, da kam das Zeug aus der Schweiz und wurde nach Stuttgart weiterverteilt. In der Kreisstadt mit ihren paarundzwanzigtausend Einwohner*innen gab es im Jahr mindestens eine*n Herointoten.

Gras gab es überall. Wer mit 16 noch keines probiert hatte, lebte eine langweilige Heidi-Kindheit; alle, die nach mehr hungerte, kifften mindestens regelmäßig. Ich nicht: ich vertrug es nicht. Bei mir machte direkt der Kreislauf dicht. Mir wurde (und wird noch heute) sofort schummrig und ich liege in der Ecke und kotze. Außerdem bekam ich damals sofort Halluzinationen, sobald jemand auch nur „Schwarzer Afghane“ sagte, und hatte Angst, im Wahn mal aus einem Fenster zu springen und mir dabei beide Beine zu brechen oder sowas.

Also ließ ich die Finger vom Kiffen. Aber probiert hatte ich doch, natürlich hatte ich auch aus alten Vasen Bongs gebaut und mir den ein oder anderen Brocken Shit gekauft, es aber irgendwann einfach drangegeben, ganz ohne Schmerzen.

An jenem Abend, der mich den Führerschein kostete, kam ich von einer Kifferrunde zurück. Ich hatte nichts geraucht (ich glaube, wir sagten so Dinge wie „einen durchgezogen“ oder sowas), nur Bier getrunken. Ich war 17 Jahre alt und wir hatten bei einem Freund zusammengesessen, der das Dachgeschoss seines Elternhauses alleine bewohnte. Es war spät geworden, vielleicht so gegen elf oder zwölf, und das hieß für mich: … Ich weiß nicht, wie man das heute nennt. Wir sagten damals „stoppen“. Noch früher soll man „trampen“ gesagt haben. Per Anhalter fahren. Ich weiß gar nicht, ob man das heute noch macht.

Das Dorf, in dem ich wohnte, lag 15 Kilometer entfernt von der Kleinstadt. Um diese Uhrzeit fuhr alle zehn Minuten ein Auto in ungefähr die Richtung, die ich brauchte. Es gab drei Möglichkeiten: entweder sie fuhren in das Dorf vor meinem, dann hatte ich noch 3 Kilometer zu gehen; oder sie fuhren in das Dorf daneben, dann hatte ich einen Kilometer zu gehen; oder sie fuhren direkt in die nächste Stadt, dann lag mein Dorf mitten auf dem Weg.An diesem Abend hatte ich Tor eins gezogen, aber es war mir egal; es waren erstaunlich wenige Autos vorbeigefahren, und als dann eines hielt, wäre ich sogar Richtung München mitgefahren, weil es fing an kalt zu werden, und ich Vogel hatte natürlich in einem Anflug von Gedankenlosigkeit die verfickte Übergangsjacke angezogen, weil man die halt auch mal tragen muss. Was sprach gegen die Winterjacke, verdammt nochmal? Wenn es zu warm ist, zieht man halt vorne den Reißverschluß auf, fertig.

Der Typ fuhr mich jedenfalls bis zu seinem Dorf und ließ mich raus. Ich hatte die Wahl, einfach stumpf draufloszulaufen und die drei Kilometer abzureißen; unglücklicherweise waren das auch nochmal 80 Höhenmeter, das Allgäu kennt keine Gnade. Oder eben hin und wieder den Daumen rauszuhalten, wenn in meinem Rücken Scheinwerfer aufleuchteten.

Ich entschied mich für zweiteres, und kaum dass ich hundert Meter gelaufen war, kam auch schon das erste Auto. Erfreulicherweise hielt es auch direkt, aber ich freute mich nur sehr kurz, weil: waren Bullen. Aber ich hatte ja nichts falsch gemacht, also war ich einigermaßen entspannt, vor allem aber pöbelbereit; von früheren Begegnungen wusste ich, dass die Bullen zwar gerne anlasslos Jugendliche filzten oder ihnen auch mal einen Knuff in die Seite gaben, aber gestrandete Schüler*innen nach Hause fahren, das ging natürlich nicht wegen Versicherung (und weil es faschistische Arschlöcher waren).

Die Autotür ging auf, heraus kam ein Typ, der mir direkt ins Gesicht leuchtete und ohne Begrüßung sagte: Ausweispapiere bitte.

Wer bist Du denn, sagte ich, Betonung auf Du.

Der Typ drehte sich zum Auto hin, wo sich gerade die Beifahrertür öffnete, und sagte: „Hon I doch gsait, dass der Ärger mache würd.“

Aus dem Auto kam schnaufend ein älterer Kollege des ersten und sagte: „Muss des sei.“ Bis heute ist mir unklar, ob er den Satz an mich, seinen Kollegen oder insgesamt ans Universum richtete.

Ich fragte, warum sie keine Mützen trugen, Schaffner würden ihre im Dienst ja auch immer aufhaben. Da hatte mich der Typ direkt im Schwitzkasten, seliges Baden-Württemberg, wo man Nazis zu demokratischen Ministerpräsidenten macht und Schüler schikaniert.

Ich war eigentlich guter Dinge, weil ich mir keiner Schuld bewusst war. Hätte ich bloß nicht diese beschissene Übergangsjacke angehabt, die ich das letzte Mal angehabt hatte, als ich zuletzt – das mochte sechs Monate hergewesen sein – einmal gekifft hatte. Und tatsächlich, diese Wichser fanden tatsächlich noch den letzten Brocken Shit, ich weiß gar nicht, ob man das heute noch so nennt, in einer der achtundfünfzig Taschen. „Haha!“ rief triumphierend der Fahrer. „Hommers!“

Ich war einigermaßen konsterniert, weil am nächsten Tag stand eine Lateinklausur an und mir schwante schon, dass das noch ein langer Abend werden würde. Und ich war eh nicht gut in Latein, ich hätte da ausgeschlafen aufschlagen sollen; stattdessen hieß es nun: „Befragung auf dem Polizeirevier“.

Wenn Allgäuer versuchen hochdeutsch zu reden, obwohl sie es nicht können, ist das von einer grandiosen Komik, gerade bei Polizist*innen: immer wollen sie ein bisschen mehr sein, als sie tatsächlich sind, und gerade dadurch outen sie sich als Witzfiguren. „Béfrágung áúf dem Pólizéirévier“. Ich hatte meinen Mut wiedergefunden und sagte ihm: „Sie müssen nicht jede Silbe betonen, das machen nur Papageien.“ Fand er nicht lustig, ich aber schon. Sie packen mich auf den Rücksitz ihres Autos und nicht geholfen hat, dass die Rückbank durch ein Gitter vom Fahrerraum getrennt war, weswegen ich während der Fahrt immer wieder mal schrie: „Polly will Cracker!“

„Halt die Fresse“, sagte der Typ, da sagte ich: „Von Ihnen will ich gesiezt werden.“ Ich war einfach nicht sehr schlau damals. Ich bin auch heute noch nicht sehr schlau. Aber es war das erste Mal, dass mich wer siezte.

Im Revier angekommen sperrten sie mich, während sie die Beweise aufnahmen, eine Stunde in einen Glaskasten, in dem nichts stand als ein Ficus in einer Ecke. Das Bier trieb so langsam, und ich musste unbedingt pissen, und ich klopfte an die Scheibe des Glaskastens, aber niemand kam, und wenn jemand kam, dann lief er*sie einfach vorbei. Erst als ich anfing in den Ficus zu pissen, standen plötzlich alle an der Tür, diese blöden Arschlöcher.

Es folgte eine Befragung, an die ich mich kaum erinnere, ich weiß nur nach, dass ich zwischendruch gefragt habe, ob ich nicht das Recht auf einen Anwalt hätte. „Haben Sie denn einen?“, fragte der Fahrerbulle, und ich fragte: „Haben Sie denn keinen?“

Hatten sie nicht. Nachts um vier hatten sie dann genug und beschlossen, mich nach Hause fahren. Dieses beschissene Arschgesicht hatte den grandiosen Einfall, einmal mit eingeschaltetem Blaulicht quer durchs ganze Dorf zu fahren, damit auch alle mitkriegen, wer da nachts von der Polizei nach Hause gebracht wird. Dann klingelten sie meine Eltern raus und freuten sich schon. Mein Vater machte die Tür auf.„Guten Morgen“, sagte diese Arschmade von einem Polizisten“, „wir haben hier…“„Komm rein“, sagte mein Vater zu mir.Ich ging rein und zog mich in mein Zimmer zurück. Mein Vater muss noch ein paar Minuten mit dem Typen diskutiert haben, der zu seinem Unmut nicht das Haus betreten durfte, und der auch keine Erklärung dafür hatte, warum er einen Schüler bis nachts um halb fünf festgehalten hatte. „Wegen 0,5 Gramm ‚Haschisch’“ klingt halt auch einigermaßen lächerlich.

Fand auch die Staatsanwaltschaft und hat das Verfahren eingestellt. Blöderweise galt damals noch ein Gesetz, das besagte, dass wer mit BTM gefasst wird, seinen Führerschein nicht ohne MPU machen darf. Zwei Jahre später erst wurde diese Rechtsprechung von Karlsruhe kassiert. Zu spät für mich, da waren meine Fahrstunden schon alle verfallen; die MPU hätte nochmal so viel gekostet wie der Führerschein, das Geld hatte ich nicht. Immerhin hatte die Dienstaufsichtsbeschwerde meiner Eltern Erfolg und der Bulle ist jahrelang nicht befördert worden. Immerhin das.

Wie ich binnen einer Stunde aus meiner neuen Wohnung geflogen bin

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ilse / pflege

Ich bin umgezogen. Ich schrieb oben Wohnung, aber tatsächlich ist es ein Zimmer in einer WG. Das Setting ist ein bisschen ungewöhnlich: Die Mitbewohnerin ist die Mutter eines Freundes, Anfang Mitte 70, Schriftstellerin, eine stolze, gewitzte Frau. Und sie ist dement, dritte Phase, heißt es. Ich kenne genug Menschen mit Demenz um zu wissen, dass so eine Kategorisierung nur bedingt aussagekräftig ist.

Sie hat bis jetzt größtenteils allein gewohnt, aber es gibt in der Wohnung eben auch ein großes Gästezimmer, in dem früher befreundete Künstler*innen übernachteten, wenn sie Auftritte in Berlin hatten. Das sollte meines werden. Im Gegenzug sollte ich ein bisschen im Blick haben, was alles nicht mehr so ganz rund läuft, mich auch ein bisschen kümmern; wie sehr und welche Hilfen es noch bräuchte vielleicht, das sollte man noch herausfinden. Natürlich habe ich mich im Vorfeld vorgestellt und mir auch alles angesehen, und das war auch sehr nett gewesen. Sie nannte mich abwechselnd Friedrich, junger Mann und dünner Mann und erzählte von einer befreundeten Fotografin, die viele Bilder von ihr gemacht hatte. Dann holte sie die Bilder und zeigte sie mir: Ilse -. Ich nenne sie Ilse. Ilse nachdenklich, Ilse lachend, Ilse verträumt, Ilse, wie sie in die Landschaft kuckt. „Das war in der Nähe von Bautzen“, sagt sie. Und dann, völlig unvermittelt: „Bautzen steht, damit andere sitzen können.“ Sie sah mich an, aber ich brauche zu lange um den Witz zu checken, bin halt Wessi. Also weiter: Ilse lesend, Ilse vorlesend, Ilse, wie sie kritisch kuckt.

Zwischendurch fragte sie immer wieder, ob ich denn einziehen würde, und dass sie sich freut. Ich sagte, dass ich das noch entscheiden müsste, und nach einer Stunde etwa ging ich. Ich hab dann noch ein bisschen hin- und herüberlegt, nach den Erfahrungen in der letzten WG hatte ich eigentlich keinen Bock mehr und wollte allein wohnen, aber andererseits: das Zimmer ist mietfrei, es gibt auch etwas Handgeld obendrauf. Ilse ist interessant, sie hat viel erlebt und kann auf ganz spröde Art sehr zauberhaft sein. Und witzig, witzig ist sie auch. Außerdem denke ich mir: was gibt es zu verlieren? Wenn es überhaupt nicht geht, musst Du halt ein zweites Mal umziehen. Naja nun.

Also sage ich zu. Unter dem Eindruck des netten Nachmittags sind mir dann zwei strategische Fehler passiert: Ich war im Vorfeld nich häufiger auf einen Tee zu Besuch, weil diesdas und immer was zu tun. Und zweitens: Ich habe den Einzug auf den frühen Abend gelegt. War halt organisatorisch geschickter, aber ich hätte mir auch, hätte ich für zwei Cent nachgedacht, darauf kommen können, dass zum Abend hin Ilses Kräfte weniger werden und sie dann abwehrend wird.

Abwehrend ist vielleicht ein Euphemismus. Das Zimmer ist möbliert, also ist der Umzug übersichtlich. 15 Kartons und etwas Krimskrams. Wir machen ihn zu zweit, den Rest werde ich einlagern. Um 18 Uhr sind wir an der neuen Wohnung, es stehen vor der Tür: der Sohn mit seiner Freundin und ein Freund der Mutter, das Fahrrad bereits zwischen seine Beine geklemmt. „Viel Spaß!“, sagt er, und dass sie niemanden hereinlassen wolle. Dann fährt er.

Okay.

Wir tragen zu dritt die Kisten ins Hinterhaus, während des Sohnes Freundin immer mal wieder klingelt. Die beiden sind sehr nervös, ich nicht; in Konfliktsituationen stelle ich mich oft einfach tot. Das ist keine Strategie, sondern ein Wesenszug; Gefahr macht, dass ich so tue, als wäre ich abwesend. Das ist sehr schlecht, wenn zum Beispiel gelbe Briefe kommen, aber gut gegenüber Personen, die aus Angst wütend sind.

Eine viertel Stunde, nachdem wir die Kartons vor die Wohnung gestellt haben, macht Ilse die Tür auf. Sie ist aufgebracht, sie will nicht, es ist ihre Wohnung, sie will keine Hilfe und wenn doch dann nur von jemandem, den sie kennt, und sie kennt schließlich genug Leute. Es eskaliert dann etwas zwischen ihrem Sohn und ihr, sie schlägt ihn, er sagt ihr, dass sie ihn geschlagen hat. Später denke ich, ich hätte da schon eingreifen sollen, vielleicht sogar noch früher, aber mir ist selbst nicht ganz klar, wie sich ihre Wut richtet: ich kenne sie nicht. Da hat sie schon recht. Ich hätte häufiger kommen sollen. Außerdem bin ich halt konfliktvermeidend, vermaledeit. Erst als der Sohn sich zu mir dreht und sagt: „Ich mache das falsch, oder?“ komme ich aus meinem Kokon. Ich nicke und sage:

„Hallo Ilse.“

Zu dem Zeitpunkt steht ein Karton in der Wohnung. Sie sagt, sie wolle alleingelassen werden, und dass ich gehen solle.

Okay, sage ich, aber was mache ich mit den Kartons?

Da denkt sie nach. „Wie kamen die denn hierher? Nimm sie wieder mit!“

„Der Typ mit dem Auto ist schon weg.“

„Dann hol halt Dein Auto!“

„Ich hab nicht einmal einen Führerschein.“

Sie zeigt auf den Hausflur. „Dann stell sie dahin und hol sie morgen!“

„Ja, aber was, wenn da jemand drangeht?“

„Was ist denn da schon drin?“, fragt sie.“Bücher“, sage ich, es entspricht zu 70 Prozent der Wahrheit. Sie macht eine wegwerfende Handbewegung.

„Die Leute gehen nicht an Bücher. Ich weiß das, ich bin Schriftstellerin.“

„Aber ich hab da auch Manuskripte drin. Was, wenn das jemand wegwirft?“

Sie kuckt mich an. Sie kuckt mich die ganze Zeit schon an, aber jetzt kommt es mir so vor, als würde sie mich auch sehen.

„Sie sind Schriftsteller?“ Ja, sage ich, und dass demnächst mein neues Buch erscheine.

Sie nickt. „Sie können sehr gern mit Manuskripten zu mir kommen, ich bin sehr gut darin, das zu beurteilen, aber nicht mit so vielen!“

Danke, sage ich, aber ich müsste ja jetzt doch die Kisten irgendwo unterbringen.

„Kisten?“, fragt sie, sie hat vergessen, wie viele es sind. „Wieviele denn?“

„15“, sage ich.

„Nein“, sagt sie, das seien zu viele und sie wolle auch niemanden, der auf sie aufpasse und über sie bestimme, sie käme zurecht, außerdem was sei ich überhaupt für eine Hilfe, wenn ich ihr nicht hülfe, die Kiste im Zimmer wieder rauszutragen, und einfach nein.

Wir reden ungefähr eine Stunde, dann erlaubt sie mir, die Kisten in ihren Wohnungsflur zu stellen, wenn ich morgen früh wiederkäme, um sie abzuholen. Ich sage zu. Ich versuche, die Kisten mit den wichtigen Unterlagen nach unten zu stapeln, und verabschiede mich dann. Ilse fragt mich, warum ich die Bücher nicht bei mir gelassen hätte, wo sie hingehören, da sag ich ihr: „Ich bin jetzt obdachlos, weißt Du.“ Das entspricht nicht ganz der Wahrheit, mein Mietvertrag läuft noch drei Wochen, aber es ist hinlänglich wahr.

Sie zögert, dann sagt sie: „Aber das ist ja nicht meine Schuld.“

„Das stimmt“, sage ich.

Sie kuckt auf den Boden und sagt dann: „Komm morgen wieder, dann reden wir über Dein Manuskript.“

„Danke“, sage ich, und: „Bis morgen.“

„Bis morgen“, antwortet Ilse, sie sieht sehr erschöpft aus.

Am nächsten Morgen, naja gegen elf, klingel ich bei ihr. Ich hab davor in die Mülltonnen im Hof gekuckt und war sehr froh, da nix von mir gefunden zu haben. Als sie aufmacht, lächelt sie. „Der dünne Mann!“, sagt sie, „komm rein.“ Ich könne die Kisten jetzt ins Zimmer tragen, die stünden sehr ungünstig im Flur, und eigentlich habe sie mir gestern noch etwas geben wollen, worauf man liegen könne, aber sie komme nicht mehr darauf, was es gewesen sei. Als ich die Kisten ins Zimmer räume, fällt es ihr wieder ein: eine Isomatte.

Danach zeigt sie mir ein Bilderbuch, zwischendrin sagt sie, dass sie froh sei, ich sei hier. „Das bin ich auch“, sage ich, es ist nicht gelogen.

Baseballschlägerjahre

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dorfjugend

An die deutsche Einheit habe ich eine Niere verloren. Das war die kurze Version. Jetzt die lange.

Ich bin ein Dorfkind, deswegen habe ich viel Zeit meiner Jugend in Vereinen verbracht. Auch und gerade in Fußballvereinen. Ich war ein Frickler, ein Dribbler, einer, der den Gegner dreimal tunneln konnte, aber so langsam gleichzeitig, dass der Gegner jedesmal die Zeit hatte, nach dem Tunnel wieder zurückzukommen, bevor ich den entscheidenden Pass spielen konnte. Meine Trainer wussten nie, wo sie mich einsetzen sollten, ich habe jede Position schonmal gespielt. Richtig gut war ich eigentlich nur in der Halle. Es lag sicher nicht an mir, dass wir damals aufgestiegen sind, einen Sommer nach der Grenzöffnung.

Zum Saisonabschluß spielten wir ein Kleinfeldturnier, danach sollte so eine Art Party in der örtlichen Turnhalle stattfinden. Man nannte das einszweidrei Mark-Fest damals, je nachdem, ob das Bier ein, zwei oder drei Mark kostete. Kleinfeld war super für mich, ich hatte immer ein Gefühl dafür, wo das Tor steht, ich war sehr gut an dem Tag. Abends hoben wir uns einen rein, Dorf halt, was will man machen.

Irgendwann ging ich vor die Tür, um mal ein bisschen frische Luft zu schnappen, da saß eine junge Frau und weinte. Ich fragte sie, was los sei. „Hau ab“, sagte sie und schluchzte. Ich fragte, ob alles okay sei. „Jetzt hau ab“, sagte sie. Okay, sagte ich. Tut mir leid. Dann ging ich einen Kiesweg entlang, ich glaube, ich musste pinkeln, und hörte hinter mir plötzlich Knirschen.Ich drehte mich um: Fünf Typen, Springerstiefel, Bomberjacke, kahle Schädel standen vor mir. „Hast Du gerade meine Freundin angemacht?“ schrie, kaum dass ich sie gesehen hatte, der kleinste.„Nein“, sagte ich, „sie hat geweint.“

Sie kamen auf mich zu, ich lief nicht weg (ich kannte das nicht, bis Anfang der 90er saßen Nazis in BaWü ausschließlich inder Regierung und im Lions Club); ich hob beschwichtigend die Hände, und sagte „Hey“. Einer schlug mir ansatzlos aufs Maul, und als ich wieder hochkam, sprühte mir ein anderer irgendwas ins Gesicht, das ich später als Pfefferspray identifizieren sollte. Dann nochmal aufs Maul. Diesmal blieb ich unten.

Es gab damals die sogenannten Klatschfahrten, das habe ich erst später erfahren: Nazis aus dem Osten, die in einer Karre auf Dorffeste in den Süden fuhren, um da mal „ein Wochenende Spaß zu haben“, also rumzuprügeln.Ich weiß nicht, wie oft sie mich getreten haben, aber sie haben gut getroffen. Man fand mich erst am nächsten Tag. Im Krankenhaus ergab die Untersuchung: Hämatome an 30 Stellen, gebrochene Rippe, gebrochenes Jochbein, Nierenfunktion rechts bei 10 Prozent.

Ich habe acht Wochen Blut gepisst und musste wöchentlich 200 Kilometer in die nächstgelegene Uniklinik zur Untersuchung. Immer Freitags, wenn der Tanzkurs war. Wegen Nazis kann ich keinen Chachacha.

Die Niere hat sich seither fast erholt, neulich hatte ich wieder Routineuntersuchung: Leistung bei 80 Prozent.