Herr Enz war von allen Lehrer*innen, die ich je hatte, sicher eine*r der miesesten. Im Grunde war er eine bemitleidenswerte Person, immer leicht gebeugt gehend, die kleinkarierten Hemden akkurat in der Hose verstaut, die Hände so oft es ging in den Taschen. Er war gleichermaßen ängstlich und cholerisch, und in seiner Freizeit schrieb er Gedichte. Die Sorte Mann, für die sich Heinz Strunk besonders interessiert. Wenn wir Freitag Nachmittag die 30 Kilometer nach Ravensburg stoppten, wo er wohnte, kam es regelmäßig vor, dass wir seinen kleinen roten Fiat auf uns zukommen sahen. Und weil wir wussten, dass er uns ohnehin nicht mitnehmen würde, wirkten und riefen wir und wedelten mit den Armen. Manchmal stellten wir uns in eine Reihe und salutierten. Er schaute dann stier auf die Straße und beschleunigte etwas, aber nicht zu sehr, 20 Meter hinter unserer Stoppbucht stand ein Blitzer. Irgendwann kam er nicht mehr an uns vorbei, er muss einen Schleichweg gefunden haben, der ihn um die Bucht herumkommen ließ.
Seine Unsicherheit und seine kaum sublimierten Aggressionen verhinderten, dass man seinem Unterricht auch nur ansatzweise folgen konnte. Trotzdem habe ich durch ihn eine wichtige Lektion gelernt.
In der 11. Klasse hatten wir in der neunten Stunde Englisch bei ihm, danach noch Mathe bei Frau Kovac. Frau Kovac war klein und runzelig und rauchte drei Schachteln Marlboro am Tag. Sie war sehr streng und neigte dazu, sarkastische Bemerkungen über Schüler*innen zu machen, und zwar unabhängig davon, ob sie gut performten oder schlecht. Sie sprach die Leute dann immer direkt an. „Liebes“, sagte sie dann, und man wusste, gleich kommt eine Spitze. Ich weiß nicht, wie sie das machte, aber ich hatte nie das Gefühl, in toto von ihr in Frage gestellt zu werden; sie wurde nur dann spitz, wenn man sich deutlich ungeschickter anstellte als zu erwarten gewesen wäre. Wenn sie „Liebes“ zu mir sagte, wusste ich, gleich würde ich über mich selbst lachen.
Die zehnstündigen Dienstage waren lang, wir lebten von Pause zu Pause. Die fünf Minuten reichten genau, um eine zu rauchen. An einem dieser Dienstage stellten wir fest, dass niemand mehr Zigaretten hatte; jemand musste während des Unterrichts los, um welche zu besorgen. Der Automat stand direkt eine Ecke weiter, also meldete ich mich bei Herrn Enz und sagte, ich müsste zur Toilette.
Der kürzeste Weg zum Automaten war durch die Aula. Um die Uhrzeit war sie normalerweise menschenleer, in einer Ecke blinkte ein Getränkeautomat. Diesmal aber nicht, diesmal saßen fünf Jugendliche auf einer der Eckbänke und lachten und erzählten sich Schmonzetten und stichelten einander an. Sie waren um die 15 alle, das habe ich später aus den Gerichtsakten erfahren. Als ich vorbeikommen, schrieen sie „Ey Du Wichser!“ und ich war nicht klug genug, einfach wortlos weiterzugehen. „Selber Wichser“, sagte ich und ging zur Tür raus.
Ich kannte den einen vom sehen, er saß immer in der Innenstadt hinter der Kirche mit älteren Jungs zusammen. Wir waren uns auch schon auf dem Fußballplatz begegnet, er war ein Frickler wie ich. Einer, der lieber drei Übersteiger macht als nur einen schnöden Pass zu spielen.
Als ich zurückkam vom Automaten, stellte er sich vor mir auf. „Hast Du mich Wichser genannt?“, rief er. Bevor ich überhaupt antworten konnte, schubste er mich; ich schubst zurück, und da schlug er mir direkt aufs Maul. Ich taumelte, schrie irgendwas, er schlug noch einmal zu; diesmal war ich schnell genug und wich ihm aus. Die anderen vier stellten sich um ihn herum auf, und zwei, drei Schläge bekam ich noch ab, bevor ich Richtung Klassenzimmer flüchten konnte. Meine Oberlippe war geschwollen, ich hatte einen Cut an der Augenbraue, da tropfte auch ein bisschen Blut raus. Und ich war aschfahl, der Schock.
Als ich eintrat, blickte Herr Enz kurz auf. „Du hast zu lange gebraucht, ich habe Dich ins Klassenbuch eintragen müssen“, sagte er. „Ich bin verprügelt worden“, sagte ich, mehr nicht. Herr Enz seufzte. „Fühlst Du Dich in der Lage, weiterhin dem Unterricht zu folgen?“ „Ja“, sagte ich mit zitternder Stimme und setzte mich an meinen Platz.
Er zog die letzten fünf Minuten Unterricht durch und ging dann, ohne sich weiter nach mir zu erkundigen. Es war dann Frau Kovac, die mir eine Cola aus dem blinkenden Getränkeautomaten besorgte, Zucker gegen den Schock. Sie begutachtet auch meine Blessuren und sagte dann: „Liebes, das wird schon.“ Dann rief sie meine Eltern an, damit die mich abholen kämen.
Es wurde Strafanzeige gestellt, die Täter wurden ermittelt, es sollte zur Gerichtsverhandlung kommen. Serdar, der mir maßgeblich aufs Maul gehauen hat, rief mich kurz nach der Anzeige an: er wollte sich entschuldigen. Er erzählte mir, wie ihn sein Vater, kurz nachdem die Polizei dagewesen war, mit dem Gürtel vertrimmt hätte. Ob ich nicht die Anzeige zurückziehen könnte, fragte er mich. „Wenn ich verurteilt werde, weisen die mich aus“, sagte er. Aber es war auf dem Schulgelände passiert, das Rektorat war Nebenkläger, das konnte ich nicht. Im Prozess spielte ich alles herunter, sagte auch, dass Serdar sich entschuldigt hätte und für mich die Sache erledigt sei. 20 Sozialstunden hat er bekommen, ohne weitere Vorstrafe. Später wurden wir Freunde, er ist jetzt Mechaniker und repariert Autos.Später hat er mir mal sehr den Arsch gerettet.
Es gab obendrein noch eine Schulkonferenz, heute würde man Fallbesprechung sagen. Herr Enzens Eintrag ins Klassenbuch war der dritte gewesen für mich in diesem Jahr, also sollte ich eventuell der Schule verwiesen werden. Herr Enz war dafür, wie man mir später sagte, und es ist Frau Kovac zu verdanken, dass die Ereignisse in einem realistischerem Licht geschildert wurden, als die Version, die er auftischte. Für ihn blieb trotzdem alles ohne Konsequenzen.
Gelernt habe ich daraus, dass gerade bemitleidenswerte Figuren gefährlich sind, sobald sie Macht haben. Ein Jahr später hatte ich Gelegenheit mich zu rächen. Und das habe ich getan, aber: das ist ei e andere Geschichte, sie soll ein andermal erzählt werden.
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