Wie fühlst du dich jetzt, werde ich gefragt, aber das weiß ich nicht ehrlich gesagt. Ich weiß von Zorn, von Hilflosigkeit, von Schmerz. Vor allem aber weiß ich von Leere; es ist alles dumpf. Alles um mich herum, der Schrank, das Bett, die Zimmerpfanze, ist ein bisschen weniger da. Ich fühle mich gleichzeitig auch wohl, lebendig; auf eine gedämpfte Art euphorisch; das wird das Adrenalin sein. Aber zwischen mir und der Welt ist ein Graben, den ich nicht verstehe; weil sie mich nicht versteht.
Wie hat es soweit kommen können? Es ist nicht das erste Mal, sage ich mir, ich bin schon öfter geschlagen worden; es gab eine Zeit, da wurde ich regelmäßig geschlagen. Es war mir auch klar, dass das passieren würde, dass es passieren musste; das ist so bei Demenz, manche Menschen werden dann eben aggressiv, und dass Ilse eine dieser Menschen sein würde, das weiß ich schon lange.
Aber dass es mir passiert, das ist doch; ja, es ist ungerecht. Niemand kümmert sich mehr, niemand ist – aktuell zumindest – näher dran. Ja, ich verstehe den Mechanismus: diese Nähe heißt eben auch, dass sie an mir merkt, wie hilflos sie in bestimmten Situationen ist, wie ausgeliefert sie ist; das kann natürlich aggressiv machen, das würde mich auch aggressiv machen; und natürlich bin nur ich gerade greifbar, also wird sich diese Aggression natürlich an mir entladen; und wenn ich nicht gut genug, nicht perfekt mit der Situation umgehe (wobei ja unklar ist, ob es diesen perfekten Umgang überhaupt gibt, ob man das überhaupt perfekt gehandhabt bekommen könnte, wahrscheinlich nicht), also wenn ich nicht gut genug funktioniere, das es dann – so hieß es früher immer – knallt.
Auf meiner Wange. Sie glüht nicht, sie tut kaum weh, Ilse hat keine Kraft mehr in den Armen (ich muss mich um eine Physiotherapie kümmern, fällt mir dazu ein, nicht als erstes, aber schon recht bald). Das ist nicht das Problem, das körperliche; das Problem ist auch nicht die Angst; jedenfalls nicht die direkte. In keiner Weise denke ich, dass mein körperliches Wohlergehen beeinträchtigt werden könnte, ich schreibe diese Worte wie ein Bürokrat. Sie kann mir keine Knochen brechen, und ich habe nachgesehen, alle Messer in der Wohnung sind so stumpf, dass sie nicht durch meine Kleidung kämen; jedenfalls nicht, solang sie sie führt. Es gibt Menschen mit Demenz, die in agressiven Momenten ungeahnte Kraft entwickeln, das ist bei ihr nicht so. Vielleicht, denke ich, will sie ja gerade nicht schlagen, und weiß aber nichts besseres, hat aber keine Mittel zur Verfügung, weiß aber noch, dass das Schlagen trotzdem falsch ist, schlägt dann aber doch zu, gelähmt allerdings von diesen Einwänden, die sie doch hemmen.
Die indirekte Angst aber, ja. Kann es danach jemals wieder schön werden? Ich weiß, dass das geht und auch gehen muss, was mich aber ärgert (nicht: traurig macht): es liegt an mir, dass es wieder schön wird. Ich muss die Voraussetzungen schaffen, darf nicht grollen, darf keine Entschuldigung wollen, darf nicht fordern und unangenehm sein. Ich darf mich da nicht mit mir aufhalten.
Traurig bin ich und auch wütend, aber meine Wut und Trauer soll ich nicht auf sie richten; auf wen dann? Wir sehen ja niemanden mehr, die Weltda draußen ist ein Abstraktum. Vielleicht muss ich mir einen Gott erfinden, den zu hassen sich lohnt; ich, der römische Legionär.
Eine Stunde nach dem Schlag werfe ich es ihr doch vor, dass sie mich geschlagen hat. Ich sehe, wie es sich in ihr zusammenzieht, und sie mehrereAntworten versucht: dass, wenn es denn überhaupt so gewesen wäre, ich es mir ja wohl doch verdient hätte; dass ich mich ja, wenn es denn so gewesen wäre, mich hätte wehren können; dass sie noch nie einer Menschenseele etwas zuleide getan hätte, das sei schlicht nicht in ihrem Wesen. Und bei diesem letzten Punkt denke ich, warum habe ich ihr das vorgeworfen, will ich noch härter geschlagen werden? Weil es hat sie ja etwas – ein Impuls; ein seelisches Hindernis – gehemmt, stärker zuzuschlagen; will ich das diskutieren? Oder will ich die Gründe aus dem Weg räumen, die dazu führten, dass sie schlug?
Ich weiß schon, woran es liegt, also was der Anlass war; Arzttermine, Ämterscheiß, die Stromgesellschaft will eine Rückmeldung. Sie liest die Post noch und weiß aber: Sie kann das nicht mehr. Aber diese Institutionen hören nicht auf zu fordern. Sie sind rücksichtslose, menschenverachtende Verwaltungsapparate, die Abweichungen nicht dulden. Vor allem nicht von Leuten, die ihnen nicht auf Social Media die Kanäle vollkotzen können, wenn irgendwas nicht funktioniert. Auf französisch sagt man: J’en ai ma claque, davon habe ich genug. Wörtlich übersetzt heißt es aber: davon hab ich meine Schelle. Ilse haut mir ins Gesicht, weil sie sich von diesen institutionen vorangetreten fühlt; und ich derjenige bin, der ihr das nahebringen soll; ohne Behördenstatus, ohne daraus resultierende Rentenansprüche, ganz allein halt, ohne Support.
„Ich hätte nie gedacht“, sagt Ilse, „dass Du einmal böse mit mir sein könntest“, das ist so ungefähr zwei Stunden nach dem Schlag. Ich kann ganz gut vergeben, ich suche mir die Leute aus, denen ich nicht vergebe. Darauf bilde ich mir etwas ein, ich bilde mir auch ein, dass ich das nicht verdient habe, dass ich diesen Schlag nicht verdient habe; aber ich glaube mir das nicht. Es ist eine menschenverachtende Gesellschaft, die Leute, die nicht dazupassen, jeden Tag ohne Vorwarnung schikaniert; mich schikaniert sie gerade so, dass ich damit zurechtkomme. Wenn ich nicht mehr damit zurechtkäme, und mir müsste jemand zur Seite gestellte werden, um diese Lücke zu füllen, würde ich nicht auch dieser Person mal mit Hass, mal mit Liebe, mal mit Dankbarkeit, mal mit Verachtung begegnen? Da die Welt ja nicht mehr wissen wollen würde, wie es mir geht; würde ich es nicht an den Leuten auslassen, die es aus vielen Gründen doch interessiert?
Der nächste Tag war super. Ilse war zugewandt, lustig, zärtlich schon beinah bisweilen. Es ist etwas anderes, von jemandem geschlagen zu werden, der entweder die körperliche Kraft besitzt, eine*n ernsthaft zu verletzen, oder von dem man sonstwie abhängig ist. Jenseits dieser Konstellation gibt es immer noch viele Fragen, auf die ich keine Antwort weiß.
Ich muss nur aufpassen, dass ich nicht selbst der Gott werde, den zu hassen ich mir vorgenommen habe.
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