Also die Sache mit Herrn Enz ging so weiter: Ich wurde im Schuljahr darauf Chefredakteur der Schülerzeitung. Das Team bestand aus acht Leuten, ziemliuch heterogen: Leute, die das machten, weil es gut im Lebenslauf aussah (zuvorderst der Co-Chefredakteur, der die Grafik machte, ein eigentlich ganz netter junger Mann, den man allerdings schonmal hatte heulen sehen, weil er in Physik einst eine 2- geschrieben hatte statt der üblichen eins) auf der einen Seite, auf der anderen Seite wir, die wir eher idealistisch waren und uns abends von Grisham-Verfilmungen ans Herz fassen ließen. Für das Gute kämpfen! Außerdem waren noch zwei Unterstufenschüler*innen mit dabei, wovon einer einen sehr lustigen Artikel darüber schrieb, wie der verdammte Kakao-Automat sein Taschengeld fraß und dafür aber keinen Kakao ausspuckte, dieses beschissene Mistding. Ich mochte Popjournalismus nie, dieser Text ist die einzige Ausnahme; das war unser Kulturaufmacher.
Herr Enz nun war in seiner Freizeit auch Dichter. Einige Monate vor Erscheinen unserer Ausgabe brachte er im Selbstverlag einen kleinen, sehr wertig gemachten Band mit einigen seiner Werke heraus. Ich kann mich an die Texte nicht mehr erinnern, damals fand ich sie weder gut noch schlecht, ich verstand damals nichts von Poesie und tue das auch immer noch nicht; Aber ich fand, jemand an der SChule macht ein Buch, das müsste ja stattfinden in der Zeitung, also trafen wir uns zum Interview. Ich kaufte mir extra mein erstes Aufnahmegerät dafür und klaute mir 5 90er-Kassetten, die Kassetten lagen einfach günstiger.
Interviews sind eine Kunst, die ich gerne beherrschen würde, aber mindestens ein Drittel aller Interviews, die ich bisher geführt habe, gingen nicht glatt. Ich lasse mich zu gern tragen vom Rhythmus des Gesprächs und bin nicht immer diszipliniert genug, um dem ganzen einen Rahmen zu geben, und oft steh ich dann da und hab einen Haufen Worte ohne Dramaturgie. Das war damals auch so: Das Gespräch war nett, aber belanglos. Ich denke, wir waren am Ende beide enttäuscht. Geplauder halt, maximal okay, für eine Schülerzeitung gut genug aber nicht mehr.
Der Eklat kam von unerwarteter Seite: in die Zeit der Produktion jener Zeitung fiel die Oberbürgermeisterwahl in der das Gymnasium beheimatenden Stadt. Besonders machte diese Wahl, dass der seit wasweißich 40 Jahren amtierende OB nicht wieder antrat und deswegen sowas ähnliches wie Spannung den Wahlausgang betreffend aufkam. Die örtliche Zeitung veranstaltete eine Podiumsdiskussion mit allen Kandidat*innen, in der der designierte Nachfolger nicht unbedingt besonders gut wegkam, schlicht deswegen, weil er halt eine Nulpe war, die durch Beziehungen und Seilschaften an die Kandidatur gekommen ist. Das auf offener Bühne zu erleben, machte die Prominenz des Städtchens derart wütend, dass sie von einer Amerikanisierung des Wahlkampfs sprach, weil: eine Podiumsdiskussion sei nun wirklich eine bodenlose Frechheit. (Eine der Geschichten in den kleinen Städten, der „Oberbürgermeister“, hat den ganzen Vorgang zum Ausgangspunkt).
Die Schülerzeitung erschien nach der Wahl (die der designierte Nachfolger natürlich gewann). Ich schrieb eine Glosse, in der der ganze Vorgang nochmal nachgezeichnet wurde. Ich wurde noch nicht einmal sonderlich gehässig oder ehrabschneidend, es war nur ein Abbild der Absurditäten, die sich da abgespielt hatten.
Damals war es üblich, dass die Schülerzeitung vom Rektor approved wurde, bevor sie auf dem Gelände der Schule verkauft werden durfte. Normalerweise war das ein geräuschloser vorgang, aber nicht diesmal: ich wurde aus dem Unterricht zum Rektor zitiert, der 18 Goldzähne im Mund trug und trotzdem aus dem Hals nach totem Eichhörchnen roch, und glücklicherweise war ich davor schon derart oft nicht gut genug für die Regeln dieses verschissenen Hinterwäldlergymnasiums gewesen, um mich nicht beeindrucken zu lassen davon, dass ich sein Büro von innen sah. Der sagte mir: er könne kein angespanntes Verhältnis riskieren zwischen Rathaus und Gymnasium. Entweder diese Glosse verschwinde aus der Zeitung, oder das Blatt werde nicht verkauft auf dem Gelände. Außerdem würde das alles noch Konsequenzen nach sich ziehen. Ich antwortete, dass ich mich in einer unangenehmen Doppelrolle aus Autor und Chefredakteur befände, und das also die Redaktion entscheiden müsste.
Dieses Gespräch fand an einem Dienstag statt, am Freitag darauf war die letzte Redaktionssitzung vor dem Druck. Ich setzte alle von den aktuellen Entwicklungen in Kenntnis und stiftete meinen damals besten Freund J an, eine Rede über Pressefreiheit zu halten vor der Redaktion. Mein Co-Chefredakteur war entschieden der Meinung, man müsse den Artikel herausnehmen, schließlich sein das Layout total super und er wollte ein Exemplar einschicken zu einem Wettbewerb, den der SPIEGEL damals veranstaltete; das ginge aber nur, wenn es sich um eine offizielle Schülerzeitung handle, sie also von der Schulleitung abgenommen worden wäre. ich hatte später einen Koffer, auf dem ein Aufkleber aufgeklebt war mit dem Satz: Fuck FJS. Dafür hab ich am Münchner Hauptbahnhof fast mal aufs Maul bekommen. Das ist eine andere Geschichte, aber diesen Aufkleber hätte ich ihm gern an die Stirn gepappt.
Die Abstimmung war knapp. J redete allen, die schwankten, ein, dass die Schule hinter ihnen stünde; dass die Wahrheit ans Licht müsse usw. Aber ich hatte mich darauf eingelassen, dass bei Gleichstand der Artikel rausflöge, und es stand 4:3 pro Artikel, als zuletzt der Siebtklässler abstimmte. Der meinte nur, dass er mir vertraue, weil ich seinen Text über den Kakaoauromat gebracht hätte, und stimmte für ein Erscheinen.
Danach gab es viele Tränen. Mein Co-Chefredakteur schmiss mir eine Diskette vor die Füße, da war die Zeitung drauf, und sagte, er wolle mit nichts davon mehr zu tun haben, ich solle auch bitte seinen Namen aus dem Impressum nehmen. Was ich tat.
Die Zeitung erschien und der Rektor machte seine Warnung wahr: zum ersten Mal in der Geschichte des Gymnasiums wurde der Verkauf der Zeitung auf dem Schulgelände untersagt.
Aber wommit der Rektor nicht gerechnet hatte: auch J machte sein Versprechen wahr: er organisierte ca 30 Oberstufenschüler, die in Trenchcoat und mit Sonnenbrille nach Schulschluß auf der Straße die Zeitung verkauften, um die Druckkosten wieder reinzuholen.
Ein Verkauf, der am ersten Tag schleppend verlief. Zurück zu Herrn Enz: der erklärte in jeder seiner Klassen, dass er diese Zeitung aus Solidarität mit dem Rektor nicht erwerben würde. Überhaupt sprachen sehr viele Lehrkräfte darüber, was das für eine unsägliche Zeitung sei. Am zweiten Tag gingen die Verkaufszahlen in die Höhe, wir fingen an, Fotos zu machen, sie über Nacht zu entwickeln und dann an die Kakao-Automaten zu hängen. Und siehe da, Herr enz war auf einem dieser Fotos, wie er um 20 nach fünf, nach der letzten Stunde, eine der Zeitungen erwarb.
C, ein guter Freund, dem die Idee mit den Trenchcoats gekommen war, schoß dieses Foto und fragte mich, ob wir es veröffentlichen sollten. Ich sagte nein: an Herrn Enzens Stelle hätte mich auch zu sehr interessiert, wie das Interview letztendlich ausgesehen hätte, um den Boykott auszuhalten. Dann aber passierten zwei Dinge: Herr Enz gab mit eine der von ihm erworbenen Zeitungen zurück mit Korrekturen, freundlicherweise hatte er einen Grünstift verwendet und nicht den roten. Und zweitens lästerte er über mich in allen seinen Unterrichten: ich sein ein Möchtegern, ich sei eine empfindungslose Seele, ich sei verachtenswert. In allen Klassen sprach er darüber, als mich die Lokalzeitung nach meinem Kommentar dazu fragte, was es mit der Schülerzeitung auf sich habe, die für 1000 Leute bestimmt gewesen sei und jetzt schon eine Auflage von 1500 habe. Da hab ich ihnen die Geschichte erzählt und zur Bebilderung das Foto von Herrn Enz geschickt, wie er die Zeitung kauft. Und die haben das gedruckt.
Danach war Ruhe.