Statt eines Nachrufs

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ilse

Es ist eigentlich nicht Trauer, die ich spüre. Ich bin enttäuscht, das ist es. Enttäuscht vom Leben, und von uns. Von mir.

Wir sind nicht gut auseinandergegangen, und wir haben uns auch nicht versöhnt; das konnte ich nicht. Du hättest es vermutlich gekonnt, allein schon dadurch, weil Du irgendwann vergessen haben wirst, wer ich bin und wer ich war. Das passierte Dir ja sogar schon, als wir noch zusammenlebten; dass Du nicht immer genau wusstest, wer ich bin. Das war nicht schlimm für mich, mir geht’s eh meistens besser inkognito.

Wir haben ein Jahr zusammen gewohnt und zusammen gelebt, die meiste Zeit habe ich ein Auge auf Dich gehabt – wie sexuell das klingt, aber es war nicht sexuell. es war eine Notwendigkeit. du wolltest das auch so. Du wolltest gesehen werden. Schlimmer noch als die Demenz war für Dich, nicht mehr Dich selbst spielen zu können. Du warst noch eine Person, eine Persönlichkeit, aber Du hattest nicht mehr die skills, das auch zu performen. Immer wieder hast Du davon gesprochen, dass Du wieder Abende ausrichten wollen würdest, Lesungen, in denen Du neue Gedichte vortragen wolltest, alle würden sie kommen! All Deine Freund*innen (Du sagtest Freunde). Und es würde schön werden und lustig und dann hast du im Zimmer getanzt: Schau, sagtest Du, was die Bab noch kann! Das hättest Du nicht gedacht! Und ich hätte, wie immer, genickt und gelacht.

Das Jahr, das wir uns kannten, hast Du ununterbrochen gelitten. Du hattest Schmerzen überall, am Rücken, am Arm, an der Seele auch. Du wolltest nicht, dass Dir jemand hilft, einer Bab hilft niemand, was die Bab fühlt, das braucht sie, um daraus Text zu machen, denn es ist ihr Leben und ihr’s allein. Keine Ärztin, kein Professor kann das verstehen; ein Priester könnte es vielleicht, aber denen ist nicht zu trauen. Eigentlich ist niemandem zu trauen außer den Bäumen.

Und so littest Du unter Schmerzen, die behandelbar gewesen wären, aber Du wolltest nicht zu die Ärzten, um’s Verrecken nicht. Wochenlang haben wir darüber gesprochen, bis Du Dir Deine Zähne hast machen lassen, die Dir schon einzeln ins Brötchen krümelten; jene Brötchen, die Du so gerne aßt (ich habe bis heute nicht verstanden, wann Du warum Brötchen sagtest und wann Schrippen). Und dann warst du unzufrieden, weil Du neue Zähne hattest, die aber eingesetzt werden mussten, und das wolltest Du nicht, und dann war die ganze Tortur für die Katz, weil es am Ende nicht ebenso möglich war Brötchen (Schrippen) zu essen wie zuvor. Es ist etwas tragisches in dieser Starrsinnigkeit: sie widersetzt sich dem Tod im Kopf, aber sie beschleunigt ihn am Leib.

War das richtig, Dich so sein zu lassen? Hätte ich strenger sein sollen, präsenter vielleicht? Es ist auch Selbstüberschätzung zu denken, ich hätte einen signifikanten Unterschied machen können. Du warst so wenig darauf vorbereitet, auf Hilfe angewiesen zu sein, dass Du Hilfe gar nicht gebrauchen konntest.

Was aber heißt das nur? Bedeutet es etwas? Diese Vergeblichkeit, die uns alle umweht? Es ist nicht so, dass ich zu Dir gezogen bin aus reinster Nächstenliebe: ich bin kein Held. Ich hatte eigene Interessen, eigene Zwänge. Ich dachte, das könnte zusammenpassen, aber die Dinge passen so selten.

In allen Pflegesituationen gibt es zumindest perspektivisch die Situation: Du oder ich. Und wenn es nicht die eigenen Kinder sind, geht die pflegende Person dann. So ging es auch bei uns auseinander; ich hab noch was zu tun. Das hattest du auch: Du schriebst, so weit ich weiß, und plantest Bücher und kümmertest Dich auch um Deinen Nachlass; Du arbeitetest, und Du hast mich 80 angefangen zu zeichnen, weil Du ohne Stift in der Hand nicht konntest. Bloß nahm irgendwann der Rest überhand: die Schmerzen, die Trauer, die Einsamkeit.

Ich werde ein wenig brauchen, um die Nachrufe über Dich zu lesen, es wird viel um Dich gehen als Intellektuelle, als Dichterin, als Wegbereiterin der deutschen Lyrik. Dabei werden sie besser sein als mein Versuch eines Nachrufs: sie treffen Dich dort, wo Du sein möchtest. Ihr kuckt in die gleiche Richtung; auch wenn du nicht mehr kuckst.

Eine Anekdote, es würde Dir gefallen, dass sie erzählt wird, soll das alles vielleicht doch noch versöhnen: Du hast einmal Gedichte aus dem Russischen nachgedichtet, das waren zwei Monate Arbeit, sagtest Du, und danach solltest Du bezahlt werden, und daraufhin habest Du gesagt: Aber warum, ich hab die ganze Zeit doch gelebt?

Diese Leichtigkeit, die so naiv ist und schön, ist uns allen auf eine Art versprochen worden; aber sie ist nicht die einzige Wahrheit. Deswegen bin ich enttäuscht, und traurig bin ich auch.

Vom Verschwinden III

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Manchmal habe ich den Eindruck zu übertreiben. Ich hole Zigaretten und sehe die Leute auf den Restaurant-Terrassen, sie essen und trinken und lachen und reden. Kinder springen um die Tische, jemand klatscht vor Freude in die Hände. Das Leben wäre leichter, denke ich, wenn ich nicht an ihm hinge.

Ich würde gern dazugehören. Es sind noch Plätze frei hier und da, ich könnte fragen, ob ich mich dazusetzen darf. So wie früher, da ging das auch. Dass es jetzt nicht mehr geht, ist meine Entscheidung, das weiß ich. Ein Freund schrieb mir vor einem Jahr, ob die Furcht zu sterben es denn Wert wäre nicht zu leben.

Aber das ist die falsche Formel. Ich lebe, und ich will auch leben. Ich fürchte mich nicht, ich wäge ab. Freilich bin ich traurig darüber, was alles nicht mehr geht, was ich nicht mehr kann; wütend bin ich auch. Es ist der Zorn des Verlustes.

Mein Verschwinden haben Unzählige vor mir bereits vollzogen, auch vor der Pandemie schon: weil sie Kinder bekamen oder alleinerziehend wurden, weil sie aufs Dorf gezogen sind oder ziehen mussten, weil sie arm wurden oder krank. Diese Art des Verschwindens ist nichts Neues, nichts Orignelles, und gerade deswegen wiegt der Vorwurf, eitel genug zu sein um darüber zu schreiben, schwer. Die Penetranz, mit der ich mich nicht verabschieden will, mit der ich den Zwang, den diese meine Entscheidung mindestens begünstigt, beschreibe, die stört. Es nervt viele, das weiß ich. Sie wollen es nicht hören und nennen mich deswegen obsessiv.

Ich bin Fauci fast dankbar, dass er ausgesprochen hat, was ich seit langem schon weiß: dass die Vulnerablen on the wayside verloren gehen werden, und das auch so sein muss. Weil es doch tatsächlich so ist: wir schinden nur Zeit, noch eine Woche und noch eine und vielleicht noch ein Jahr. Unsere Kinder werden in die Schulen gezwungen, wir werden in unsere Jobs gezwungen, es gibt gar keine Alternativen: die Ansteckung ist optionslos. Alle müssen damit leben und wer nicht damit leben kann, muss daran sterben.

Seit Fauci das gesagt hat habe ich nicht mehr die Hoffnung zu übertreiben (ich wünschte nichts sehnlicher, als dass ich übertreiben würde). Was ich tatsächlich betrauere ist aufgegeben worden zu sein. Schaue ich in mein Leben, dann liebe ich die Menschen darin (und finde Frieden in dem, was ich tue); schaue ich in die Welt, stehe ich an meinem Grab.

Also gehe ich nach Hause und setze mich zu niemandem; überhöre die bösen Bemerkungen zur Maske, das Getuschel, die Kinderfragen; vergesse die Abende, die ich haben könnte, und genieße jene, die ich erlebe; und denke so selten wie möglich „noch“.

Vom Verschwinden II

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Es kamen Freundschaften hinzu über die letzten dreieinhalb Jahre, auch enge. Die meisten würde ich allerdings eher Kameradschaften nennen; wir teilen ähnliche Schicksale, wir teilen die Sorgen und Ängste, wir helfen uns und wir spiegeln einander. Wir versichern und brauchen uns. Aber diese Sorge umeinander dreht sich um uns; um unsere Gemeinsamkeit. Wir sind community.

Ich habe Freundschaften dann als besonders bereichernd empfunden, wenn die Menschen mir zwar ähnlich waren, aber andere Erfahrungen gemacht haben. In dem Punkt muss ich umdenken: ich lerne inzwischen vor allem Menschen kennen, denen es ähnlich erging wie mir, die aber ganz anders sind. Freundschaften, wie ich sie immer gepflegt habe, waren selten frei von einer gewissen Direktheit, einem nicht selten abgründigen Humor, einem kulturellen Einverständnis; jetzt aber lerne ich Menschen kennen, die zum Beispiel Richard David Precht gar nicht so schlecht finden. Ich weiß, dass sie falsch liegen, es ist also keine Erweiterung; aber ich widerspreche ihnen nicht mehr unbedingt. Ich gehe freundlich darüber hinweg. Mein Freundschaftskonzept ist zu einem Freundlichkeitskonzept herabgesunken.

tbc

Vom Verschwinden I

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Auf der Straße sehe ich niemandem mehr ins Gesicht. Früher einmal war ich neugierig, offen, ich habe viel gelächelt. Eine Freundin meinte einst zu mir, es sei schön mit mir durch die Stadt zu gehen, weil ich dauernd vor mich hersummte. Sie wird mich tatsächlich gemocht haben, denke ich, wenn sie eine derart nervtötende Angewohnheit fröhlich stimmte. Auch der Kontakt riss ab irgendwann: ich war zu sorglos.

Inzwischen reißen die Kontakte ab, weil ich zu besorgt bin. Mit Menschen Kontakt zu haben strengt mich an. Ihre Wirklichkeit ist derart weit weg von meiner, und selbst wenn sie sich Mühe geben zu verstehen glaube ich nicht, dass sie verstehen, was dreieinhalb Jahre Isolation mit einem Menschen machen. Ich verstehe es selbst nicht gut. Ich schaue auf die Person, die ich vor fünf, vor zehn Jahren war, und sehe mich nicht. Auch meine Vergangenheit verschwindet.

Faucis Satz, der eine Feststellung war und keine Warnung, man werde nun die Vulnerablen am Wegesrand zurücklassen, hat mich tief getroffen. On the wayside, sagte er, und ich komme nicht darüber hinweg, wie schön diese Formulierung klingt. The Wayside. Das wollte ich doch immer, nicht auf den Pfaden gehen, die alle anderen beschreiten. Aber es ist keine Verheißung, es ist eine Drohung, eine tödliche Drohung. Mehr noch: es ist ein tödliches Versprechen.

Ich habe früher Texte abgelehnt, die zu sehr das Ich in den Vordergrung rücken, die zu autobiografisch sind. Die Klebrigkeit dieser Texte, ihre Eitelkeit hat mich immer abgestoßen. Es fällt mir auch jetzt schwer, diese Sorte Text zu schreiben, ich würde gerne mit Max Dorner darüber sprechen, der eine große Virutosität in diesem Genre entwickelt hatte, derart groß, dass ich seine Texte lesen konnte. Aber auch er ist verschwunden, einfach fort.

Also werde ich mit mir selbst darüber sprechen, und ich will es öffentlich tun, obwohl es mir unangenehm ist; es klingt schnell selbstmitleidig, schnell bitter, aber auch pathetisch und therapeutisch. Max hätte gesagt, dass all das auszuhalten eine Form der inneren Resilienz sei, er hätte es sich nicht so ausgedrückt, er hätte eher sowas gesagt wie: Ihr Berliner (*innen, hätte ich in Gedanken hinzugefügt) mit eurer Abgebrühtheit und dann hätte er eine kurze Pause gemacht, die ihm selbst lang vorgekommen wäre, und dann etwas in die Richtung gesagt, dass sich für sich selbst zu interessieren der einzige Weg ist sich auch für andere zu interessieren.

On the wayside. Das ist jetzt mein Platz. wenn ich über diesen meinen Platz spreche, muss ich von mir sprechen, anders geht es nicht.

tbc

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Also die Sache mit Herrn Enz ging so weiter: Ich wurde im Schuljahr darauf Chefredakteur der Schülerzeitung. Das Team bestand aus acht Leuten, ziemliuch heterogen: Leute, die das machten, weil es gut im Lebenslauf aussah (zuvorderst der Co-Chefredakteur, der die Grafik machte, ein eigentlich ganz netter junger Mann, den man allerdings schonmal hatte heulen sehen, weil er in Physik einst eine 2- geschrieben hatte statt der üblichen eins) auf der einen Seite, auf der anderen Seite wir, die wir eher idealistisch waren und uns abends von Grisham-Verfilmungen ans Herz fassen ließen. Für das Gute kämpfen! Außerdem waren noch zwei Unterstufenschüler*innen mit dabei, wovon einer einen sehr lustigen Artikel darüber schrieb, wie der verdammte Kakao-Automat sein Taschengeld fraß und dafür aber keinen Kakao ausspuckte, dieses beschissene Mistding. Ich mochte Popjournalismus nie, dieser Text ist die einzige Ausnahme; das war unser Kulturaufmacher.

Herr Enz nun war in seiner Freizeit auch Dichter. Einige Monate vor Erscheinen unserer Ausgabe brachte er im Selbstverlag einen kleinen, sehr wertig gemachten Band mit einigen seiner Werke heraus. Ich kann mich an die Texte nicht mehr erinnern, damals fand ich sie weder gut noch schlecht, ich verstand damals nichts von Poesie und tue das auch immer noch nicht; Aber ich fand, jemand an der SChule macht ein Buch, das müsste ja stattfinden in der Zeitung, also trafen wir uns zum Interview. Ich kaufte mir extra mein erstes Aufnahmegerät dafür und klaute mir 5 90er-Kassetten, die Kassetten lagen einfach günstiger.

Interviews sind eine Kunst, die ich gerne beherrschen würde, aber mindestens ein Drittel aller Interviews, die ich bisher geführt habe, gingen nicht glatt. Ich lasse mich zu gern tragen vom Rhythmus des Gesprächs und bin nicht immer diszipliniert genug, um dem ganzen einen Rahmen zu geben, und oft steh ich dann da und hab einen Haufen Worte ohne Dramaturgie. Das war damals auch so: Das Gespräch war nett, aber belanglos. Ich denke, wir waren am Ende beide enttäuscht. Geplauder halt, maximal okay, für eine Schülerzeitung gut genug aber nicht mehr.

Der Eklat kam von unerwarteter Seite: in die Zeit der Produktion jener Zeitung fiel die Oberbürgermeisterwahl in der das Gymnasium beheimatenden Stadt. Besonders machte diese Wahl, dass der seit wasweißich 40 Jahren amtierende OB nicht wieder antrat und deswegen sowas ähnliches wie Spannung den Wahlausgang betreffend aufkam. Die örtliche Zeitung veranstaltete eine Podiumsdiskussion mit allen Kandidat*innen, in der der designierte Nachfolger nicht unbedingt besonders gut wegkam, schlicht deswegen, weil er halt eine Nulpe war, die durch Beziehungen und Seilschaften an die Kandidatur gekommen ist. Das auf offener Bühne zu erleben, machte die Prominenz des Städtchens derart wütend, dass sie von einer Amerikanisierung des Wahlkampfs sprach, weil: eine Podiumsdiskussion sei nun wirklich eine bodenlose Frechheit. (Eine der Geschichten in den kleinen Städten, der „Oberbürgermeister“, hat den ganzen Vorgang zum Ausgangspunkt).

Die Schülerzeitung erschien nach der Wahl (die der designierte Nachfolger natürlich gewann). Ich schrieb eine Glosse, in der der ganze Vorgang nochmal nachgezeichnet wurde. Ich wurde noch nicht einmal sonderlich gehässig oder ehrabschneidend, es war nur ein Abbild der Absurditäten, die sich da abgespielt hatten.

Damals war es üblich, dass die Schülerzeitung vom Rektor approved wurde, bevor sie auf dem Gelände der Schule verkauft werden durfte. Normalerweise war das ein geräuschloser vorgang, aber nicht diesmal: ich wurde aus dem Unterricht zum Rektor zitiert, der 18 Goldzähne im Mund trug und trotzdem aus dem Hals nach totem Eichhörchnen roch, und glücklicherweise war ich davor schon derart oft nicht gut genug für die Regeln dieses verschissenen Hinterwäldlergymnasiums gewesen, um mich nicht beeindrucken zu lassen davon, dass ich sein Büro von innen sah. Der sagte mir: er könne kein angespanntes Verhältnis riskieren zwischen Rathaus und Gymnasium. Entweder diese Glosse verschwinde aus der Zeitung, oder das Blatt werde nicht verkauft auf dem Gelände. Außerdem würde das alles noch Konsequenzen nach sich ziehen. Ich antwortete, dass ich mich in einer unangenehmen Doppelrolle aus Autor und Chefredakteur befände, und das also die Redaktion entscheiden müsste.

Dieses Gespräch fand an einem Dienstag statt, am Freitag darauf war die letzte Redaktionssitzung vor dem Druck. Ich setzte alle von den aktuellen Entwicklungen in Kenntnis und stiftete meinen damals besten Freund J an, eine Rede über Pressefreiheit zu halten vor der Redaktion. Mein Co-Chefredakteur war entschieden der Meinung, man müsse den Artikel herausnehmen, schließlich sein das Layout total super und er wollte ein Exemplar einschicken zu einem Wettbewerb, den der SPIEGEL damals veranstaltete; das ginge aber nur, wenn es sich um eine offizielle Schülerzeitung handle, sie also von der Schulleitung abgenommen worden wäre. ich hatte später einen Koffer, auf dem ein Aufkleber aufgeklebt war mit dem Satz: Fuck FJS. Dafür hab ich am Münchner Hauptbahnhof fast mal aufs Maul bekommen. Das ist eine andere Geschichte, aber diesen Aufkleber hätte ich ihm gern an die Stirn gepappt.

Die Abstimmung war knapp. J redete allen, die schwankten, ein, dass die Schule hinter ihnen stünde; dass die Wahrheit ans Licht müsse usw. Aber ich hatte mich darauf eingelassen, dass bei Gleichstand der Artikel rausflöge, und es stand 4:3 pro Artikel, als zuletzt der Siebtklässler abstimmte. Der meinte nur, dass er mir vertraue, weil ich seinen Text über den Kakaoauromat gebracht hätte, und stimmte für ein Erscheinen.

Danach gab es viele Tränen. Mein Co-Chefredakteur schmiss mir eine Diskette vor die Füße, da war die Zeitung drauf, und sagte, er wolle mit nichts davon mehr zu tun haben, ich solle auch bitte seinen Namen aus dem Impressum nehmen. Was ich tat.

Die Zeitung erschien und der Rektor machte seine Warnung wahr: zum ersten Mal in der Geschichte des Gymnasiums wurde der Verkauf der Zeitung auf dem Schulgelände untersagt.

Aber wommit der Rektor nicht gerechnet hatte: auch J machte sein Versprechen wahr: er organisierte ca 30 Oberstufenschüler, die in Trenchcoat und mit Sonnenbrille nach Schulschluß auf der Straße die Zeitung verkauften, um die Druckkosten wieder reinzuholen.

Ein Verkauf, der am ersten Tag schleppend verlief. Zurück zu Herrn Enz: der erklärte in jeder seiner Klassen, dass er diese Zeitung aus Solidarität mit dem Rektor nicht erwerben würde. Überhaupt sprachen sehr viele Lehrkräfte darüber, was das für eine unsägliche Zeitung sei. Am zweiten Tag gingen die Verkaufszahlen in die Höhe, wir fingen an, Fotos zu machen, sie über Nacht zu entwickeln und dann an die Kakao-Automaten zu hängen. Und siehe da, Herr enz war auf einem dieser Fotos, wie er um 20 nach fünf, nach der letzten Stunde, eine der Zeitungen erwarb.

C, ein guter Freund, dem die Idee mit den Trenchcoats gekommen war, schoß dieses Foto und fragte mich, ob wir es veröffentlichen sollten. Ich sagte nein: an Herrn Enzens Stelle hätte mich auch zu sehr interessiert, wie das Interview letztendlich ausgesehen hätte, um den Boykott auszuhalten. Dann aber passierten zwei Dinge: Herr Enz gab mit eine der von ihm erworbenen Zeitungen zurück mit Korrekturen, freundlicherweise hatte er einen Grünstift verwendet und nicht den roten. Und zweitens lästerte er über mich in allen seinen Unterrichten: ich sein ein Möchtegern, ich sei eine empfindungslose Seele, ich sei verachtenswert. In allen Klassen sprach er darüber, als mich die Lokalzeitung nach meinem Kommentar dazu fragte, was es mit der Schülerzeitung auf sich habe, die für 1000 Leute bestimmt gewesen sei und jetzt schon eine Auflage von 1500 habe. Da hab ich ihnen die Geschichte erzählt und zur Bebilderung das Foto von Herrn Enz geschickt, wie er die Zeitung kauft. Und die haben das gedruckt.

Danach war Ruhe.

Licht am Ende

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ilse

Es endete mit einer Taschenlampe in meinem Gesicht nachts um halb fünf. „Können Sie bitte rauskommen?“, sagte eine Stimme.

„Was?“, sagte ich.

„Sie sollen rauskommen“, sagte eine andere Stimme im Hintergrund.

„Entschuldigung, was ist los?“

„Jetzt kommen Sie mal raus.“, sagte wer, ich zitterte sofort. Ich kannte diesen Tonfall. Das war ein Tonfall, der Rippen bricht, wenn es sein muss.

Also kam ich raus, vor mir standen zwei Polizeibeamte und Ilse, beide auf ihre Art in voller Montur.

„Was machen Sie hier?“, fragte die eine Beamtin.

„Ich habe geschlafen.“ Ich versuchte mir eine Zigarette anzuzünden, „Könnten Sie das BITTE lassen“, sagte der Beamte, warum, fragte ich, „Ich sagte BITTE“, sagte der Beamte. Also öieß ich es. Früher hätte ich es nicht gelassen, dachte ich, und was ich auch dachte, war: Wichser. Früher hätte ich das ausgesprochen.

„Wer sind Sie denn?“, fragte mich die Beamtin, was soll man darauf antworten.

„Was wollen Sie von mir?“, fragte ich.

„Die Dame sagt, Sie würden sich unrechtmäßig hier aufhalten. Sind Sie der Betreuer?“

„Ich bin der Mitbewohner“, sage ich.

Ilse steht die ganze Zeit daneben und kuckt freundlich. Ein bisschen stolz bin ich auf sie: sie hat den ganzen Weg zur Polizei allein gefunden und denen auch sagen können, wo sie wohnt. Gut gemacht, aber auch: wtf. Klar, sie ist sehr enttäuscht, dass ich künftig weniger Zeit haben werde, mag die Leute vom Pflegedienst nicht und auch nicht, dass ihr jetzt täglich Essen gebracht wird; all diese Veränderungen sind scheißescheißescheiße. Zwei Wochen lang bin ich dafür täglich mehrfach angeschrieen worden, ich dachte, das legt sich wieder.

Aber da steh ich nun, Kippe in der Hand, die ich nicht anmachen darf. ob ich einen Untermietvertrag hätte, werde ich gefragt, ich nicke. „Heißt das ja“, fragt der Typ, man müsste ihm eine reinhauen. „Nicken heißt gemeinhin ja“, sage ich, die sollen mich schlafen lassen, ich kriege immer sehr schlechte Laune, wenn man mich nicht schlafen lässt.

Ilse merkt so langsam, dass das nicht in die von ihr gewünschte Richtung geht. Völlig unvermittelt fängt sie an zu schimpfen: „Du Dreckskerl, Du Arschloch, lässt mich hier sitzen, Du woderliches Biest!“

So langsam dämmert den beiden Leuchten, womit sie es zu tun haben, aber nur ein wenig. „Ich mache Sie darauf aufmerksam“, sagt die Beamtin zu Ilse, „dass Beleidigungen eine Straftat sind.“

„Weggehen will er, der Dreckskerl, diese miese Ratte!“, schreit Ilse aufgebracht.

„Komm, das bringt hier nichts“, sagt der Beamte. Und, zu mir hin: „Schönen Tag noch.“

Alle Parteien verlassen den Flur, die Polizei geht zur Tür hinaus, Ilse wütet in ihrem Zimmer, ich liege in meinem Bett und beschließe, dass es das war. Es reicht. Am nächsten Tag ziehe ich aus.

Ich gehe nicht ganz, ich komme täglich, um nach ihr zu sehen. Ich bringe Kuchen und lasse mich Dreckskerl rufen. Nach kurzer Zeit spaltet sie mich: Ich sei ja sehr nett, viel netter als das Arschloch, das zuvor bei ihr gewohnt habe. Ob ich nicht bei ihr einziehen wolle.

Ich lehne höflich ab.

Maul

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dorfjugend

Herr Enz war von allen Lehrer*innen, die ich je hatte, sicher eine*r der miesesten. Im Grunde war er eine bemitleidenswerte Person, immer leicht gebeugt gehend, die kleinkarierten Hemden akkurat in der Hose verstaut, die Hände so oft es ging in den Taschen. Er war gleichermaßen ängstlich und cholerisch, und in seiner Freizeit schrieb er Gedichte. Die Sorte Mann, für die sich Heinz Strunk besonders interessiert. Wenn wir Freitag Nachmittag die 30 Kilometer nach Ravensburg stoppten, wo er wohnte, kam es regelmäßig vor, dass wir seinen kleinen roten Fiat auf uns zukommen sahen. Und weil wir wussten, dass er uns ohnehin nicht mitnehmen würde, wirkten und riefen wir und wedelten mit den Armen. Manchmal stellten wir uns in eine Reihe und salutierten. Er schaute dann stier auf die Straße und beschleunigte etwas, aber nicht zu sehr, 20 Meter hinter unserer Stoppbucht stand ein Blitzer. Irgendwann kam er nicht mehr an uns vorbei, er muss einen Schleichweg gefunden haben, der ihn um die Bucht herumkommen ließ.

Seine Unsicherheit und seine kaum sublimierten Aggressionen verhinderten, dass man seinem Unterricht auch nur ansatzweise folgen konnte. Trotzdem habe ich durch ihn eine wichtige Lektion gelernt.

In der 11. Klasse hatten wir in der neunten Stunde Englisch bei ihm, danach noch Mathe bei Frau Kovac. Frau Kovac war klein und runzelig und rauchte drei Schachteln Marlboro am Tag. Sie war sehr streng und neigte dazu, sarkastische Bemerkungen über Schüler*innen zu machen, und zwar unabhängig davon, ob sie gut performten oder schlecht. Sie sprach die Leute dann immer direkt an. „Liebes“, sagte sie dann, und man wusste, gleich kommt eine Spitze. Ich weiß nicht, wie sie das machte, aber ich hatte nie das Gefühl, in toto von ihr in Frage gestellt zu werden; sie wurde nur dann spitz, wenn man sich deutlich ungeschickter anstellte als zu erwarten gewesen wäre. Wenn sie „Liebes“ zu mir sagte, wusste ich, gleich würde ich über mich selbst lachen.

Die zehnstündigen Dienstage waren lang, wir lebten von Pause zu Pause. Die fünf Minuten reichten genau, um eine zu rauchen. An einem dieser Dienstage stellten wir fest, dass niemand mehr Zigaretten hatte; jemand musste während des Unterrichts los, um welche zu besorgen. Der Automat stand direkt eine Ecke weiter, also meldete ich mich bei Herrn Enz und sagte, ich müsste zur Toilette.

Der kürzeste Weg zum Automaten war durch die Aula. Um die Uhrzeit war sie normalerweise menschenleer, in einer Ecke blinkte ein Getränkeautomat. Diesmal aber nicht, diesmal saßen fünf Jugendliche auf einer der Eckbänke und lachten und erzählten sich Schmonzetten und stichelten einander an. Sie waren um die 15 alle, das habe ich später aus den Gerichtsakten erfahren. Als ich vorbeikommen, schrieen sie „Ey Du Wichser!“ und ich war nicht klug genug, einfach wortlos weiterzugehen. „Selber Wichser“, sagte ich und ging zur Tür raus.

Ich kannte den einen vom sehen, er saß immer in der Innenstadt hinter der Kirche mit älteren Jungs zusammen. Wir waren uns auch schon auf dem Fußballplatz begegnet, er war ein Frickler wie ich. Einer, der lieber drei Übersteiger macht als nur einen schnöden Pass zu spielen.

Als ich zurückkam vom Automaten, stellte er sich vor mir auf. „Hast Du mich Wichser genannt?“, rief er. Bevor ich überhaupt antworten konnte, schubste er mich; ich schubst zurück, und da schlug er mir direkt aufs Maul. Ich taumelte, schrie irgendwas, er schlug noch einmal zu; diesmal war ich schnell genug und wich ihm aus. Die anderen vier stellten sich um ihn herum auf, und zwei, drei Schläge bekam ich noch ab, bevor ich Richtung Klassenzimmer flüchten konnte. Meine Oberlippe war geschwollen, ich hatte einen Cut an der Augenbraue, da tropfte auch ein bisschen Blut raus. Und ich war aschfahl, der Schock.

Als ich eintrat, blickte Herr Enz kurz auf. „Du hast zu lange gebraucht, ich habe Dich ins Klassenbuch eintragen müssen“, sagte er. „Ich bin verprügelt worden“, sagte ich, mehr nicht. Herr Enz seufzte. „Fühlst Du Dich in der Lage, weiterhin dem Unterricht zu folgen?“ „Ja“, sagte ich mit zitternder Stimme und setzte mich an meinen Platz.

Er zog die letzten fünf Minuten Unterricht durch und ging dann, ohne sich weiter nach mir zu erkundigen. Es war dann Frau Kovac, die mir eine Cola aus dem blinkenden Getränkeautomaten besorgte, Zucker gegen den Schock. Sie begutachtet auch meine Blessuren und sagte dann: „Liebes, das wird schon.“ Dann rief sie meine Eltern an, damit die mich abholen kämen.

Es wurde Strafanzeige gestellt, die Täter wurden ermittelt, es sollte zur Gerichtsverhandlung kommen. Serdar, der mir maßgeblich aufs Maul gehauen hat, rief mich kurz nach der Anzeige an: er wollte sich entschuldigen. Er erzählte mir, wie ihn sein Vater, kurz nachdem die Polizei dagewesen war, mit dem Gürtel vertrimmt hätte. Ob ich nicht die Anzeige zurückziehen könnte, fragte er mich. „Wenn ich verurteilt werde, weisen die mich aus“, sagte er. Aber es war auf dem Schulgelände passiert, das Rektorat war Nebenkläger, das konnte ich nicht. Im Prozess spielte ich alles herunter, sagte auch, dass Serdar sich entschuldigt hätte und für mich die Sache erledigt sei. 20 Sozialstunden hat er bekommen, ohne weitere Vorstrafe. Später wurden wir Freunde, er ist jetzt Mechaniker und repariert Autos.Später hat er mir mal sehr den Arsch gerettet.

Es gab obendrein noch eine Schulkonferenz, heute würde man Fallbesprechung sagen. Herr Enzens Eintrag ins Klassenbuch war der dritte gewesen für mich in diesem Jahr, also sollte ich eventuell der Schule verwiesen werden. Herr Enz war dafür, wie man mir später sagte, und es ist Frau Kovac zu verdanken, dass die Ereignisse in einem realistischerem Licht geschildert wurden, als die Version, die er auftischte. Für ihn blieb trotzdem alles ohne Konsequenzen.

Gelernt habe ich daraus, dass gerade bemitleidenswerte Figuren gefährlich sind, sobald sie Macht haben. Ein Jahr später hatte ich Gelegenheit mich zu rächen. Und das habe ich getan, aber: das ist ei e andere Geschichte, sie soll ein andermal erzählt werden.

summer jam

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dorfjugend

Mein heißester Sommer war im Jahr 2000. Sechs Wochen lang arbeitete ich in einer Verzinkerei in einem Nachbarort. Der Bau war aus den 20ern, eine wellblechüberdachte Halle. Im hinteren Teil lag das Zinkbad, eine riesige Wanne, in der das Zink auf mehrere hundert Grad erhitzt wurde. Da kam dann das Zeug rein, Stahlträger zum Beispiel, Treppengeländer, alles mögliche. Das wurde dann an einem Laufkran nach vorne befördert, und wenn es gut lief, dann musste man das Zeug nur kurz ablegen; wenn es schlecht lief, musste es direkt auf Europaletten verpackt werden. Da stand man dann in T-Shirt und mit dicken Handschuhen und versuchte, die noch glühenden 40-Kilo-Stahlträger mit irgendwelchen Metallhaken fachgerecht übereinanderzustapeln, während kaum 15 Meter weiter das kochende Zink vor such hinblubberte.

Wir waren zu dritt in der Verladehalle, zwei Ferienarbeiter und Gino. Gino war Ende 40, seine Finger waren alle ganz krumm und verbogen; in seiner Freizeit fuhr er durch halb Süddeutschland, um an Fingerhakel-Wettbewerben teilzunehmen. Ich glaube, er hat mal erzählt, wie er den Schweizer Meister schlug, aber auch denkbar, dass mein Hirn da eine Legende bildet. Er konnte den linken Ellenbogen nur noch auf Schulterhöhe heben, nach einem Streit hatte jemand ihm vor Jahren durch den Brustmuskel geschossen mit einem kleinkalibrigen Revolver. Manchmal zog er in der Frühstückspause sein Hemd aus, dann sah man es: vorne das kleine Eintrittsloch, nicht größer als ein frischer Mückenstich. Hinten aber eine fast handgroße Vernarbung, hell und rötlich und verwuchert. „Wenn ihr Stress mit dem Chef habt, schiebt alles auf mich“, sagte er. „Mir können die nichts, ich bin schwerbehindert.“

Der Chef war ein Arschloch. Es waren eigentlich zwei Chefs, Brüder, beides Arschlöcher. Cholerische Sadisten in Karohemden, die nur dann aus ihrem Büro kamen, um rumzuschreien, wenn die Aufträge nicht schnell genug abgearbeitet wurden. In der Halle waren es regelmäßig über 50 Grad, und wir gingen häufiger raus um zu rauchen; wenn es besonders viel zu tun gab, und wir nahmen uns eine Pause, stürmten sie oft aus ihrem klimatisierten Büro, um uns zurück in die Halle zu treiben. Gino, der nicht rauchte, bekam das mit und stellte sich fortan, wenn wir rausgingen, zu uns. Dann ließen sie uns tatsächlich in Frieden. Ich hab mich lange nicht gefragt, warum. Später erzählte mir mal einer der Kollegen, wie er den einen Chef mit einer Hand die Wand hochgedrückt hatte, nachdem der einmal zu viel rumgeschrieen hatte. „Schrei mich nochmal so und und ich schmeiß dich ins Zinkbad“, soll er gesagt haben. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber ich hoffe es.

Von den anderen Kollegen bekam ich nicht viel mit. Die standen hinten am Zinkbad und drückten Schalter. Nur Oleg, ein überaus fröhlicher Mensch, kam bisweilen zu uns, wenn es sehr stressig wurde, um uns beim Verladen zu helfen.

Oleg war es auch, den ich nach Werner fragte. Werner stand immer an den Knöpfen, das heißt er ließ das Material ins Zinkbad und holte es wieder raus. Das waren zwei Handgriffe. Werner war ganz grau überall und tat auch nur das: Pfeilnachrechtsknoof, roter Knopf, grüner Knopf, roter Knopf, halten, Pfeilnachrechtsknopf. Freitags hatten wir 15 Uhr Feierabend und saßen oft noch zusammen auf ein Bier. Einmal fragte Oleg, was alle vorhätten am Wochenende, und Werner sagte nur: Ich geh in den Wald und häng mich auf. Niemand hat gelacht, alle haben nur betreten geguckt. Ich fragte am Montag dann Gino, was das zu bedeuten hätte. Tja, sagte Gino, Werner habe im Lotto gewonnen, und zwar zwei Mal: einmal eine halbe Million, die habe er sofort verjubelt, Autos und Urlaube und Stereoanlagen. Und kaum ein Jahr später nochmal 800.000. Und auch das habe er sofort verjubelt. Und jetzt stehe er wieder hier, eigentlich hatte er ja gekündigt, das sei das erste, was er gemacht habe. Sonntags arbeite er noch in einer Tankstelle, weil mit dem zweiten Gewinn habe er sich ein Haus bauen wollen, mit vier Stockwerken und Swimming Pool und Zeug. Und jetzt sei das Geld alle und es seien immer noch hunderttausende bei der Bank offen. „Für Leute wie uns ist Geld nichts“, sagte Gino, an den Satz habe ich seither oft gedacht. Und noch einen Satz hat er gesagt: „Deswegen müssen Leute wie wir zusammenhalten.“ Aber vielleicht bilde ich mir auch nur ein, dass er diesen zweiten Satz auch gesagt hat.

Meine Haut vernarbt sehr gut. Deswegen sieht man mir diesen Job nicht an, obwohl ich mich mindestens alle zwei Tage an einem dreihundert Grad heißen Stahlträger einen Katschen in den Arm gebrannt habe. Die einzige Narbe, die man sieht, ist von einem Geländerteil, das schlecht aufgehängt worden war und mir direkt auf die Innenseite des Unterarms fiel, als ich es vom Haken holen wollte. Kreisrund ist die Narbe, groß wie ein Fünfmarkstück. Man sieht sie nur im Sommer, wenn die Haut drumherum ein bisschen nachdunkelt. Das Geländer wurde an ein Rathaus ausgeliefert.

Zwei Jahre nach diesem Sommer haben sie den Laden dichtgemacht. Der Boden war anderthalb Meter tief mit Schwermetallen vergiftet. Die Chefs behielten ihr Haus, Gino verlor seinen Job. Manchmal google ich nach Werner, in der Hoffnung, dass ich nichts finde. Eigentlich immer, sobald ich dir Narbe sehe.

Egal wie es geht

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„Ist Dir ja egal“, sagt sie, das sagt sie immer, wenn es ihr schlecht geht. „Ist Dir ja egal, wie’s mir geht.“ Seit zwei Stunden höre ich mir an, dass sie sich umbringen möchte, aber nicht kann, weil sie leider keine Mörderin sei, aber ich würde sie umbringen, das sei Mord, was ich tue, weil ich nichts täte, außerdem hätte ich gar kein Mitgefühl, und womit sie eigentlich all ihr Leiden verdient habe, sie habe nie jemanden etwas getan, und jetzt dieses hier: Sie zeigt die Hand vor, ihre rechte. Es ist eine schmale Hand, das untere Gelenk am Zeigefinger ist etwas dick. Still steht die Hand in der Luft, bis sie selbst auf sie niederblickt und sie zu wackeln beginnt – wer beginnt zu wackeln, ist es die Hand, ist es Ilse, ich weiß es nicht. „So schlimm war das noch nie“, sagt sie immer, inzwischen sagt sie das fast jeden Tag. Die Hand ist ihr Seismograph, sie schlägt aus, um mir zu sagen, dass es in ihr bebt und brodelt.

„Wie kann ich Dir helfen?“, frage ich, aber sie will gar nicht, dass ihr geholfen wird, sie will auf keine Hilfe angewiesen sein. Sie will bleiben, was sie immer war, unabhängig und bewundert und eigen. „Hau ab“, schreit sie, „hau bloß ab! Du Arschloch!“ Dann geht sie in ihr Zimmer, während sie leise vor sich hinmurmelt, sie solle nicht immer Arschloch sagen. „Ist ihm ja egal, wie’s mir geht.“ Das ist ihr Mantra. „Ich sterbe hier“, sagt sie noch, was soll ich dazu sagen? Wenn es gut läuft, ja? Aber wenn ich es nicht mehr schaffe, dann wahrscheinlich nicht?

Es gibt so vieles, das man nicht ändern kann, nicht beeinflussen kann. Ich kann ihr die Angst nicht nehmen, die Unsicherheit, die Verluste. Ich kann ihr vorschlagen, eine Suppe zu kochen oder einen Kuchen zu holen – egal, was ich vorschlage, es wird auf jeden Fall falsch sein, weil eine Suppe oder ein Kuchen nicht das richtige sind gegen eine Hand, die zittert, sobald man sie ansieht. „Bring mich ja zu keinem Arzt, die sind alle dumm! Allesamt!“, schreit sie aus dem Zimmer. „Aber Dir ist es ja eh egal, wie’s mir geht. Arschloch.“, sagt sie hinter der Tür, inzwischen sagt sie es mir nur noch selten ins Gesicht, weil sie gesehen hat, dass mich das verletzt. Für sich selbst braucht sie das aber, dieses sauer sein auf mich, dass jemand da ist, den man verantwortlich machen kann, den man beschuldigen kann. einmal hat sie mir erzählt, dass sie es schade findet, nicht an Gott zu glauben, weil dann hätte sie jemanden, den sie verantwortlich machen kann für ihre Misere. Aber sie glaubt eben nicht, Glauben ist Kitsch. Stattdessen schimpft sie auf die Deutschen und auf Stalin, der einen Pakt mit Hitler geschlossen hat, dieses Schwein.

„Soll ich Dir was vorlesen“, frage ich, zum achten Mal inzwischen, endlich sagt sie ja: aus ihren eigenen Texten, dieses eine Gedicht vor allem, bei dem muss sie immer weinen. Ich kann es auswendig inzwischen, eines von vielleicht zehn Gedichten, die ich auswendig kann inzwischen.

Sieht man doch

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ilse

Ein Bild in einer Selbsthilfegruppe für Angehörige, eine alte Frau sitzt an einem Tisch, sie schläft, ihr Kopf ist vornübergebeugt, der Mund halb offen. Durch das Fenster scheint die Morgensonne.

Was kann man da tun, fragt die Tochter, ich weiß nicht mehr was ich tun soll, ständig schläft sie so ein und will sich nicht hinlegen.

Hast Du, fragt eine, sie denn schonmal gefragt, was sie will, ja, antwortet die Tochter, sie will so sitzen, aber sie merkt doch gar nicht mehr, dass sie einschläft. Das ist doch unbequem.

Sagt wer, fragt eine andere, das sieht man doch, sagt die Tochter.

Woran sieht man das, frage ich, es ist halt so wie ich es sage, sagt die Tochter.

Hast Du schon einmal versucht, ihr einen gemütlichen Campingstuhl hinzustellen, fragt eine, ich habe sogar einen Sessel gekauft, sagt die Tochter, einen schönen Sessel, da ist alles verstellbar dran und es gibt eine Fernbedienung und teuer war er auch.

Und? Naja, sagt die tochter, dann hat sie sich einfach auf einen der anderen Holzstühle gesetzt, bis wir den Sessel wieder weggenommen haben.

Also sie will so schlafen, wo ist denn dann das Problem, fragt eine, und die Tochter: Naja der Sessel war teuer und bequem sieht das nicht aus, so schläft man doch nicht, das kann doch nicht…