Mein heißester Sommer war im Jahr 2000. Sechs Wochen lang arbeitete ich in einer Verzinkerei in einem Nachbarort. Der Bau war aus den 20ern, eine wellblechüberdachte Halle. Im hinteren Teil lag das Zinkbad, eine riesige Wanne, in der das Zink auf mehrere hundert Grad erhitzt wurde. Da kam dann das Zeug rein, Stahlträger zum Beispiel, Treppengeländer, alles mögliche. Das wurde dann an einem Laufkran nach vorne befördert, und wenn es gut lief, dann musste man das Zeug nur kurz ablegen; wenn es schlecht lief, musste es direkt auf Europaletten verpackt werden. Da stand man dann in T-Shirt und mit dicken Handschuhen und versuchte, die noch glühenden 40-Kilo-Stahlträger mit irgendwelchen Metallhaken fachgerecht übereinanderzustapeln, während kaum 15 Meter weiter das kochende Zink vor such hinblubberte.
Wir waren zu dritt in der Verladehalle, zwei Ferienarbeiter und Gino. Gino war Ende 40, seine Finger waren alle ganz krumm und verbogen; in seiner Freizeit fuhr er durch halb Süddeutschland, um an Fingerhakel-Wettbewerben teilzunehmen. Ich glaube, er hat mal erzählt, wie er den Schweizer Meister schlug, aber auch denkbar, dass mein Hirn da eine Legende bildet. Er konnte den linken Ellenbogen nur noch auf Schulterhöhe heben, nach einem Streit hatte jemand ihm vor Jahren durch den Brustmuskel geschossen mit einem kleinkalibrigen Revolver. Manchmal zog er in der Frühstückspause sein Hemd aus, dann sah man es: vorne das kleine Eintrittsloch, nicht größer als ein frischer Mückenstich. Hinten aber eine fast handgroße Vernarbung, hell und rötlich und verwuchert. „Wenn ihr Stress mit dem Chef habt, schiebt alles auf mich“, sagte er. „Mir können die nichts, ich bin schwerbehindert.“
Der Chef war ein Arschloch. Es waren eigentlich zwei Chefs, Brüder, beides Arschlöcher. Cholerische Sadisten in Karohemden, die nur dann aus ihrem Büro kamen, um rumzuschreien, wenn die Aufträge nicht schnell genug abgearbeitet wurden. In der Halle waren es regelmäßig über 50 Grad, und wir gingen häufiger raus um zu rauchen; wenn es besonders viel zu tun gab, und wir nahmen uns eine Pause, stürmten sie oft aus ihrem klimatisierten Büro, um uns zurück in die Halle zu treiben. Gino, der nicht rauchte, bekam das mit und stellte sich fortan, wenn wir rausgingen, zu uns. Dann ließen sie uns tatsächlich in Frieden. Ich hab mich lange nicht gefragt, warum. Später erzählte mir mal einer der Kollegen, wie er den einen Chef mit einer Hand die Wand hochgedrückt hatte, nachdem der einmal zu viel rumgeschrieen hatte. „Schrei mich nochmal so und und ich schmeiß dich ins Zinkbad“, soll er gesagt haben. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber ich hoffe es.
Von den anderen Kollegen bekam ich nicht viel mit. Die standen hinten am Zinkbad und drückten Schalter. Nur Oleg, ein überaus fröhlicher Mensch, kam bisweilen zu uns, wenn es sehr stressig wurde, um uns beim Verladen zu helfen.
Oleg war es auch, den ich nach Werner fragte. Werner stand immer an den Knöpfen, das heißt er ließ das Material ins Zinkbad und holte es wieder raus. Das waren zwei Handgriffe. Werner war ganz grau überall und tat auch nur das: Pfeilnachrechtsknoof, roter Knopf, grüner Knopf, roter Knopf, halten, Pfeilnachrechtsknopf. Freitags hatten wir 15 Uhr Feierabend und saßen oft noch zusammen auf ein Bier. Einmal fragte Oleg, was alle vorhätten am Wochenende, und Werner sagte nur: Ich geh in den Wald und häng mich auf. Niemand hat gelacht, alle haben nur betreten geguckt. Ich fragte am Montag dann Gino, was das zu bedeuten hätte. Tja, sagte Gino, Werner habe im Lotto gewonnen, und zwar zwei Mal: einmal eine halbe Million, die habe er sofort verjubelt, Autos und Urlaube und Stereoanlagen. Und kaum ein Jahr später nochmal 800.000. Und auch das habe er sofort verjubelt. Und jetzt stehe er wieder hier, eigentlich hatte er ja gekündigt, das sei das erste, was er gemacht habe. Sonntags arbeite er noch in einer Tankstelle, weil mit dem zweiten Gewinn habe er sich ein Haus bauen wollen, mit vier Stockwerken und Swimming Pool und Zeug. Und jetzt sei das Geld alle und es seien immer noch hunderttausende bei der Bank offen. „Für Leute wie uns ist Geld nichts“, sagte Gino, an den Satz habe ich seither oft gedacht. Und noch einen Satz hat er gesagt: „Deswegen müssen Leute wie wir zusammenhalten.“ Aber vielleicht bilde ich mir auch nur ein, dass er diesen zweiten Satz auch gesagt hat.
Meine Haut vernarbt sehr gut. Deswegen sieht man mir diesen Job nicht an, obwohl ich mich mindestens alle zwei Tage an einem dreihundert Grad heißen Stahlträger einen Katschen in den Arm gebrannt habe. Die einzige Narbe, die man sieht, ist von einem Geländerteil, das schlecht aufgehängt worden war und mir direkt auf die Innenseite des Unterarms fiel, als ich es vom Haken holen wollte. Kreisrund ist die Narbe, groß wie ein Fünfmarkstück. Man sieht sie nur im Sommer, wenn die Haut drumherum ein bisschen nachdunkelt. Das Geländer wurde an ein Rathaus ausgeliefert.
Zwei Jahre nach diesem Sommer haben sie den Laden dichtgemacht. Der Boden war anderthalb Meter tief mit Schwermetallen vergiftet. Die Chefs behielten ihr Haus, Gino verlor seinen Job. Manchmal google ich nach Werner, in der Hoffnung, dass ich nichts finde. Eigentlich immer, sobald ich dir Narbe sehe.