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Also die Sache mit Herrn Enz ging so weiter: Ich wurde im Schuljahr darauf Chefredakteur der Schülerzeitung. Das Team bestand aus acht Leuten, ziemliuch heterogen: Leute, die das machten, weil es gut im Lebenslauf aussah (zuvorderst der Co-Chefredakteur, der die Grafik machte, ein eigentlich ganz netter junger Mann, den man allerdings schonmal hatte heulen sehen, weil er in Physik einst eine 2- geschrieben hatte statt der üblichen eins) auf der einen Seite, auf der anderen Seite wir, die wir eher idealistisch waren und uns abends von Grisham-Verfilmungen ans Herz fassen ließen. Für das Gute kämpfen! Außerdem waren noch zwei Unterstufenschüler*innen mit dabei, wovon einer einen sehr lustigen Artikel darüber schrieb, wie der verdammte Kakao-Automat sein Taschengeld fraß und dafür aber keinen Kakao ausspuckte, dieses beschissene Mistding. Ich mochte Popjournalismus nie, dieser Text ist die einzige Ausnahme; das war unser Kulturaufmacher.

Herr Enz nun war in seiner Freizeit auch Dichter. Einige Monate vor Erscheinen unserer Ausgabe brachte er im Selbstverlag einen kleinen, sehr wertig gemachten Band mit einigen seiner Werke heraus. Ich kann mich an die Texte nicht mehr erinnern, damals fand ich sie weder gut noch schlecht, ich verstand damals nichts von Poesie und tue das auch immer noch nicht; Aber ich fand, jemand an der SChule macht ein Buch, das müsste ja stattfinden in der Zeitung, also trafen wir uns zum Interview. Ich kaufte mir extra mein erstes Aufnahmegerät dafür und klaute mir 5 90er-Kassetten, die Kassetten lagen einfach günstiger.

Interviews sind eine Kunst, die ich gerne beherrschen würde, aber mindestens ein Drittel aller Interviews, die ich bisher geführt habe, gingen nicht glatt. Ich lasse mich zu gern tragen vom Rhythmus des Gesprächs und bin nicht immer diszipliniert genug, um dem ganzen einen Rahmen zu geben, und oft steh ich dann da und hab einen Haufen Worte ohne Dramaturgie. Das war damals auch so: Das Gespräch war nett, aber belanglos. Ich denke, wir waren am Ende beide enttäuscht. Geplauder halt, maximal okay, für eine Schülerzeitung gut genug aber nicht mehr.

Der Eklat kam von unerwarteter Seite: in die Zeit der Produktion jener Zeitung fiel die Oberbürgermeisterwahl in der das Gymnasium beheimatenden Stadt. Besonders machte diese Wahl, dass der seit wasweißich 40 Jahren amtierende OB nicht wieder antrat und deswegen sowas ähnliches wie Spannung den Wahlausgang betreffend aufkam. Die örtliche Zeitung veranstaltete eine Podiumsdiskussion mit allen Kandidat*innen, in der der designierte Nachfolger nicht unbedingt besonders gut wegkam, schlicht deswegen, weil er halt eine Nulpe war, die durch Beziehungen und Seilschaften an die Kandidatur gekommen ist. Das auf offener Bühne zu erleben, machte die Prominenz des Städtchens derart wütend, dass sie von einer Amerikanisierung des Wahlkampfs sprach, weil: eine Podiumsdiskussion sei nun wirklich eine bodenlose Frechheit. (Eine der Geschichten in den kleinen Städten, der „Oberbürgermeister“, hat den ganzen Vorgang zum Ausgangspunkt).

Die Schülerzeitung erschien nach der Wahl (die der designierte Nachfolger natürlich gewann). Ich schrieb eine Glosse, in der der ganze Vorgang nochmal nachgezeichnet wurde. Ich wurde noch nicht einmal sonderlich gehässig oder ehrabschneidend, es war nur ein Abbild der Absurditäten, die sich da abgespielt hatten.

Damals war es üblich, dass die Schülerzeitung vom Rektor approved wurde, bevor sie auf dem Gelände der Schule verkauft werden durfte. Normalerweise war das ein geräuschloser vorgang, aber nicht diesmal: ich wurde aus dem Unterricht zum Rektor zitiert, der 18 Goldzähne im Mund trug und trotzdem aus dem Hals nach totem Eichhörchnen roch, und glücklicherweise war ich davor schon derart oft nicht gut genug für die Regeln dieses verschissenen Hinterwäldlergymnasiums gewesen, um mich nicht beeindrucken zu lassen davon, dass ich sein Büro von innen sah. Der sagte mir: er könne kein angespanntes Verhältnis riskieren zwischen Rathaus und Gymnasium. Entweder diese Glosse verschwinde aus der Zeitung, oder das Blatt werde nicht verkauft auf dem Gelände. Außerdem würde das alles noch Konsequenzen nach sich ziehen. Ich antwortete, dass ich mich in einer unangenehmen Doppelrolle aus Autor und Chefredakteur befände, und das also die Redaktion entscheiden müsste.

Dieses Gespräch fand an einem Dienstag statt, am Freitag darauf war die letzte Redaktionssitzung vor dem Druck. Ich setzte alle von den aktuellen Entwicklungen in Kenntnis und stiftete meinen damals besten Freund J an, eine Rede über Pressefreiheit zu halten vor der Redaktion. Mein Co-Chefredakteur war entschieden der Meinung, man müsse den Artikel herausnehmen, schließlich sein das Layout total super und er wollte ein Exemplar einschicken zu einem Wettbewerb, den der SPIEGEL damals veranstaltete; das ginge aber nur, wenn es sich um eine offizielle Schülerzeitung handle, sie also von der Schulleitung abgenommen worden wäre. ich hatte später einen Koffer, auf dem ein Aufkleber aufgeklebt war mit dem Satz: Fuck FJS. Dafür hab ich am Münchner Hauptbahnhof fast mal aufs Maul bekommen. Das ist eine andere Geschichte, aber diesen Aufkleber hätte ich ihm gern an die Stirn gepappt.

Die Abstimmung war knapp. J redete allen, die schwankten, ein, dass die Schule hinter ihnen stünde; dass die Wahrheit ans Licht müsse usw. Aber ich hatte mich darauf eingelassen, dass bei Gleichstand der Artikel rausflöge, und es stand 4:3 pro Artikel, als zuletzt der Siebtklässler abstimmte. Der meinte nur, dass er mir vertraue, weil ich seinen Text über den Kakaoauromat gebracht hätte, und stimmte für ein Erscheinen.

Danach gab es viele Tränen. Mein Co-Chefredakteur schmiss mir eine Diskette vor die Füße, da war die Zeitung drauf, und sagte, er wolle mit nichts davon mehr zu tun haben, ich solle auch bitte seinen Namen aus dem Impressum nehmen. Was ich tat.

Die Zeitung erschien und der Rektor machte seine Warnung wahr: zum ersten Mal in der Geschichte des Gymnasiums wurde der Verkauf der Zeitung auf dem Schulgelände untersagt.

Aber wommit der Rektor nicht gerechnet hatte: auch J machte sein Versprechen wahr: er organisierte ca 30 Oberstufenschüler, die in Trenchcoat und mit Sonnenbrille nach Schulschluß auf der Straße die Zeitung verkauften, um die Druckkosten wieder reinzuholen.

Ein Verkauf, der am ersten Tag schleppend verlief. Zurück zu Herrn Enz: der erklärte in jeder seiner Klassen, dass er diese Zeitung aus Solidarität mit dem Rektor nicht erwerben würde. Überhaupt sprachen sehr viele Lehrkräfte darüber, was das für eine unsägliche Zeitung sei. Am zweiten Tag gingen die Verkaufszahlen in die Höhe, wir fingen an, Fotos zu machen, sie über Nacht zu entwickeln und dann an die Kakao-Automaten zu hängen. Und siehe da, Herr enz war auf einem dieser Fotos, wie er um 20 nach fünf, nach der letzten Stunde, eine der Zeitungen erwarb.

C, ein guter Freund, dem die Idee mit den Trenchcoats gekommen war, schoß dieses Foto und fragte mich, ob wir es veröffentlichen sollten. Ich sagte nein: an Herrn Enzens Stelle hätte mich auch zu sehr interessiert, wie das Interview letztendlich ausgesehen hätte, um den Boykott auszuhalten. Dann aber passierten zwei Dinge: Herr Enz gab mit eine der von ihm erworbenen Zeitungen zurück mit Korrekturen, freundlicherweise hatte er einen Grünstift verwendet und nicht den roten. Und zweitens lästerte er über mich in allen seinen Unterrichten: ich sein ein Möchtegern, ich sei eine empfindungslose Seele, ich sei verachtenswert. In allen Klassen sprach er darüber, als mich die Lokalzeitung nach meinem Kommentar dazu fragte, was es mit der Schülerzeitung auf sich habe, die für 1000 Leute bestimmt gewesen sei und jetzt schon eine Auflage von 1500 habe. Da hab ich ihnen die Geschichte erzählt und zur Bebilderung das Foto von Herrn Enz geschickt, wie er die Zeitung kauft. Und die haben das gedruckt.

Danach war Ruhe.

Licht am Ende

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ilse

Es endete mit einer Taschenlampe in meinem Gesicht nachts um halb fünf. „Können Sie bitte rauskommen?“, sagte eine Stimme.

„Was?“, sagte ich.

„Sie sollen rauskommen“, sagte eine andere Stimme im Hintergrund.

„Entschuldigung, was ist los?“

„Jetzt kommen Sie mal raus.“, sagte wer, ich zitterte sofort. Ich kannte diesen Tonfall. Das war ein Tonfall, der Rippen bricht, wenn es sein muss.

Also kam ich raus, vor mir standen zwei Polizeibeamte und Ilse, beide auf ihre Art in voller Montur.

„Was machen Sie hier?“, fragte die eine Beamtin.

„Ich habe geschlafen.“ Ich versuchte mir eine Zigarette anzuzünden, „Könnten Sie das BITTE lassen“, sagte der Beamte, warum, fragte ich, „Ich sagte BITTE“, sagte der Beamte. Also öieß ich es. Früher hätte ich es nicht gelassen, dachte ich, und was ich auch dachte, war: Wichser. Früher hätte ich das ausgesprochen.

„Wer sind Sie denn?“, fragte mich die Beamtin, was soll man darauf antworten.

„Was wollen Sie von mir?“, fragte ich.

„Die Dame sagt, Sie würden sich unrechtmäßig hier aufhalten. Sind Sie der Betreuer?“

„Ich bin der Mitbewohner“, sage ich.

Ilse steht die ganze Zeit daneben und kuckt freundlich. Ein bisschen stolz bin ich auf sie: sie hat den ganzen Weg zur Polizei allein gefunden und denen auch sagen können, wo sie wohnt. Gut gemacht, aber auch: wtf. Klar, sie ist sehr enttäuscht, dass ich künftig weniger Zeit haben werde, mag die Leute vom Pflegedienst nicht und auch nicht, dass ihr jetzt täglich Essen gebracht wird; all diese Veränderungen sind scheißescheißescheiße. Zwei Wochen lang bin ich dafür täglich mehrfach angeschrieen worden, ich dachte, das legt sich wieder.

Aber da steh ich nun, Kippe in der Hand, die ich nicht anmachen darf. ob ich einen Untermietvertrag hätte, werde ich gefragt, ich nicke. „Heißt das ja“, fragt der Typ, man müsste ihm eine reinhauen. „Nicken heißt gemeinhin ja“, sage ich, die sollen mich schlafen lassen, ich kriege immer sehr schlechte Laune, wenn man mich nicht schlafen lässt.

Ilse merkt so langsam, dass das nicht in die von ihr gewünschte Richtung geht. Völlig unvermittelt fängt sie an zu schimpfen: „Du Dreckskerl, Du Arschloch, lässt mich hier sitzen, Du woderliches Biest!“

So langsam dämmert den beiden Leuchten, womit sie es zu tun haben, aber nur ein wenig. „Ich mache Sie darauf aufmerksam“, sagt die Beamtin zu Ilse, „dass Beleidigungen eine Straftat sind.“

„Weggehen will er, der Dreckskerl, diese miese Ratte!“, schreit Ilse aufgebracht.

„Komm, das bringt hier nichts“, sagt der Beamte. Und, zu mir hin: „Schönen Tag noch.“

Alle Parteien verlassen den Flur, die Polizei geht zur Tür hinaus, Ilse wütet in ihrem Zimmer, ich liege in meinem Bett und beschließe, dass es das war. Es reicht. Am nächsten Tag ziehe ich aus.

Ich gehe nicht ganz, ich komme täglich, um nach ihr zu sehen. Ich bringe Kuchen und lasse mich Dreckskerl rufen. Nach kurzer Zeit spaltet sie mich: Ich sei ja sehr nett, viel netter als das Arschloch, das zuvor bei ihr gewohnt habe. Ob ich nicht bei ihr einziehen wolle.

Ich lehne höflich ab.

Maul

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dorfjugend

Herr Enz war von allen Lehrer*innen, die ich je hatte, sicher eine*r der miesesten. Im Grunde war er eine bemitleidenswerte Person, immer leicht gebeugt gehend, die kleinkarierten Hemden akkurat in der Hose verstaut, die Hände so oft es ging in den Taschen. Er war gleichermaßen ängstlich und cholerisch, und in seiner Freizeit schrieb er Gedichte. Die Sorte Mann, für die sich Heinz Strunk besonders interessiert. Wenn wir Freitag Nachmittag die 30 Kilometer nach Ravensburg stoppten, wo er wohnte, kam es regelmäßig vor, dass wir seinen kleinen roten Fiat auf uns zukommen sahen. Und weil wir wussten, dass er uns ohnehin nicht mitnehmen würde, wirkten und riefen wir und wedelten mit den Armen. Manchmal stellten wir uns in eine Reihe und salutierten. Er schaute dann stier auf die Straße und beschleunigte etwas, aber nicht zu sehr, 20 Meter hinter unserer Stoppbucht stand ein Blitzer. Irgendwann kam er nicht mehr an uns vorbei, er muss einen Schleichweg gefunden haben, der ihn um die Bucht herumkommen ließ.

Seine Unsicherheit und seine kaum sublimierten Aggressionen verhinderten, dass man seinem Unterricht auch nur ansatzweise folgen konnte. Trotzdem habe ich durch ihn eine wichtige Lektion gelernt.

In der 11. Klasse hatten wir in der neunten Stunde Englisch bei ihm, danach noch Mathe bei Frau Kovac. Frau Kovac war klein und runzelig und rauchte drei Schachteln Marlboro am Tag. Sie war sehr streng und neigte dazu, sarkastische Bemerkungen über Schüler*innen zu machen, und zwar unabhängig davon, ob sie gut performten oder schlecht. Sie sprach die Leute dann immer direkt an. „Liebes“, sagte sie dann, und man wusste, gleich kommt eine Spitze. Ich weiß nicht, wie sie das machte, aber ich hatte nie das Gefühl, in toto von ihr in Frage gestellt zu werden; sie wurde nur dann spitz, wenn man sich deutlich ungeschickter anstellte als zu erwarten gewesen wäre. Wenn sie „Liebes“ zu mir sagte, wusste ich, gleich würde ich über mich selbst lachen.

Die zehnstündigen Dienstage waren lang, wir lebten von Pause zu Pause. Die fünf Minuten reichten genau, um eine zu rauchen. An einem dieser Dienstage stellten wir fest, dass niemand mehr Zigaretten hatte; jemand musste während des Unterrichts los, um welche zu besorgen. Der Automat stand direkt eine Ecke weiter, also meldete ich mich bei Herrn Enz und sagte, ich müsste zur Toilette.

Der kürzeste Weg zum Automaten war durch die Aula. Um die Uhrzeit war sie normalerweise menschenleer, in einer Ecke blinkte ein Getränkeautomat. Diesmal aber nicht, diesmal saßen fünf Jugendliche auf einer der Eckbänke und lachten und erzählten sich Schmonzetten und stichelten einander an. Sie waren um die 15 alle, das habe ich später aus den Gerichtsakten erfahren. Als ich vorbeikommen, schrieen sie „Ey Du Wichser!“ und ich war nicht klug genug, einfach wortlos weiterzugehen. „Selber Wichser“, sagte ich und ging zur Tür raus.

Ich kannte den einen vom sehen, er saß immer in der Innenstadt hinter der Kirche mit älteren Jungs zusammen. Wir waren uns auch schon auf dem Fußballplatz begegnet, er war ein Frickler wie ich. Einer, der lieber drei Übersteiger macht als nur einen schnöden Pass zu spielen.

Als ich zurückkam vom Automaten, stellte er sich vor mir auf. „Hast Du mich Wichser genannt?“, rief er. Bevor ich überhaupt antworten konnte, schubste er mich; ich schubst zurück, und da schlug er mir direkt aufs Maul. Ich taumelte, schrie irgendwas, er schlug noch einmal zu; diesmal war ich schnell genug und wich ihm aus. Die anderen vier stellten sich um ihn herum auf, und zwei, drei Schläge bekam ich noch ab, bevor ich Richtung Klassenzimmer flüchten konnte. Meine Oberlippe war geschwollen, ich hatte einen Cut an der Augenbraue, da tropfte auch ein bisschen Blut raus. Und ich war aschfahl, der Schock.

Als ich eintrat, blickte Herr Enz kurz auf. „Du hast zu lange gebraucht, ich habe Dich ins Klassenbuch eintragen müssen“, sagte er. „Ich bin verprügelt worden“, sagte ich, mehr nicht. Herr Enz seufzte. „Fühlst Du Dich in der Lage, weiterhin dem Unterricht zu folgen?“ „Ja“, sagte ich mit zitternder Stimme und setzte mich an meinen Platz.

Er zog die letzten fünf Minuten Unterricht durch und ging dann, ohne sich weiter nach mir zu erkundigen. Es war dann Frau Kovac, die mir eine Cola aus dem blinkenden Getränkeautomaten besorgte, Zucker gegen den Schock. Sie begutachtet auch meine Blessuren und sagte dann: „Liebes, das wird schon.“ Dann rief sie meine Eltern an, damit die mich abholen kämen.

Es wurde Strafanzeige gestellt, die Täter wurden ermittelt, es sollte zur Gerichtsverhandlung kommen. Serdar, der mir maßgeblich aufs Maul gehauen hat, rief mich kurz nach der Anzeige an: er wollte sich entschuldigen. Er erzählte mir, wie ihn sein Vater, kurz nachdem die Polizei dagewesen war, mit dem Gürtel vertrimmt hätte. Ob ich nicht die Anzeige zurückziehen könnte, fragte er mich. „Wenn ich verurteilt werde, weisen die mich aus“, sagte er. Aber es war auf dem Schulgelände passiert, das Rektorat war Nebenkläger, das konnte ich nicht. Im Prozess spielte ich alles herunter, sagte auch, dass Serdar sich entschuldigt hätte und für mich die Sache erledigt sei. 20 Sozialstunden hat er bekommen, ohne weitere Vorstrafe. Später wurden wir Freunde, er ist jetzt Mechaniker und repariert Autos.Später hat er mir mal sehr den Arsch gerettet.

Es gab obendrein noch eine Schulkonferenz, heute würde man Fallbesprechung sagen. Herr Enzens Eintrag ins Klassenbuch war der dritte gewesen für mich in diesem Jahr, also sollte ich eventuell der Schule verwiesen werden. Herr Enz war dafür, wie man mir später sagte, und es ist Frau Kovac zu verdanken, dass die Ereignisse in einem realistischerem Licht geschildert wurden, als die Version, die er auftischte. Für ihn blieb trotzdem alles ohne Konsequenzen.

Gelernt habe ich daraus, dass gerade bemitleidenswerte Figuren gefährlich sind, sobald sie Macht haben. Ein Jahr später hatte ich Gelegenheit mich zu rächen. Und das habe ich getan, aber: das ist ei e andere Geschichte, sie soll ein andermal erzählt werden.

summer jam

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dorfjugend

Mein heißester Sommer war im Jahr 2000. Sechs Wochen lang arbeitete ich in einer Verzinkerei in einem Nachbarort. Der Bau war aus den 20ern, eine wellblechüberdachte Halle. Im hinteren Teil lag das Zinkbad, eine riesige Wanne, in der das Zink auf mehrere hundert Grad erhitzt wurde. Da kam dann das Zeug rein, Stahlträger zum Beispiel, Treppengeländer, alles mögliche. Das wurde dann an einem Laufkran nach vorne befördert, und wenn es gut lief, dann musste man das Zeug nur kurz ablegen; wenn es schlecht lief, musste es direkt auf Europaletten verpackt werden. Da stand man dann in T-Shirt und mit dicken Handschuhen und versuchte, die noch glühenden 40-Kilo-Stahlträger mit irgendwelchen Metallhaken fachgerecht übereinanderzustapeln, während kaum 15 Meter weiter das kochende Zink vor such hinblubberte.

Wir waren zu dritt in der Verladehalle, zwei Ferienarbeiter und Gino. Gino war Ende 40, seine Finger waren alle ganz krumm und verbogen; in seiner Freizeit fuhr er durch halb Süddeutschland, um an Fingerhakel-Wettbewerben teilzunehmen. Ich glaube, er hat mal erzählt, wie er den Schweizer Meister schlug, aber auch denkbar, dass mein Hirn da eine Legende bildet. Er konnte den linken Ellenbogen nur noch auf Schulterhöhe heben, nach einem Streit hatte jemand ihm vor Jahren durch den Brustmuskel geschossen mit einem kleinkalibrigen Revolver. Manchmal zog er in der Frühstückspause sein Hemd aus, dann sah man es: vorne das kleine Eintrittsloch, nicht größer als ein frischer Mückenstich. Hinten aber eine fast handgroße Vernarbung, hell und rötlich und verwuchert. „Wenn ihr Stress mit dem Chef habt, schiebt alles auf mich“, sagte er. „Mir können die nichts, ich bin schwerbehindert.“

Der Chef war ein Arschloch. Es waren eigentlich zwei Chefs, Brüder, beides Arschlöcher. Cholerische Sadisten in Karohemden, die nur dann aus ihrem Büro kamen, um rumzuschreien, wenn die Aufträge nicht schnell genug abgearbeitet wurden. In der Halle waren es regelmäßig über 50 Grad, und wir gingen häufiger raus um zu rauchen; wenn es besonders viel zu tun gab, und wir nahmen uns eine Pause, stürmten sie oft aus ihrem klimatisierten Büro, um uns zurück in die Halle zu treiben. Gino, der nicht rauchte, bekam das mit und stellte sich fortan, wenn wir rausgingen, zu uns. Dann ließen sie uns tatsächlich in Frieden. Ich hab mich lange nicht gefragt, warum. Später erzählte mir mal einer der Kollegen, wie er den einen Chef mit einer Hand die Wand hochgedrückt hatte, nachdem der einmal zu viel rumgeschrieen hatte. „Schrei mich nochmal so und und ich schmeiß dich ins Zinkbad“, soll er gesagt haben. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber ich hoffe es.

Von den anderen Kollegen bekam ich nicht viel mit. Die standen hinten am Zinkbad und drückten Schalter. Nur Oleg, ein überaus fröhlicher Mensch, kam bisweilen zu uns, wenn es sehr stressig wurde, um uns beim Verladen zu helfen.

Oleg war es auch, den ich nach Werner fragte. Werner stand immer an den Knöpfen, das heißt er ließ das Material ins Zinkbad und holte es wieder raus. Das waren zwei Handgriffe. Werner war ganz grau überall und tat auch nur das: Pfeilnachrechtsknoof, roter Knopf, grüner Knopf, roter Knopf, halten, Pfeilnachrechtsknopf. Freitags hatten wir 15 Uhr Feierabend und saßen oft noch zusammen auf ein Bier. Einmal fragte Oleg, was alle vorhätten am Wochenende, und Werner sagte nur: Ich geh in den Wald und häng mich auf. Niemand hat gelacht, alle haben nur betreten geguckt. Ich fragte am Montag dann Gino, was das zu bedeuten hätte. Tja, sagte Gino, Werner habe im Lotto gewonnen, und zwar zwei Mal: einmal eine halbe Million, die habe er sofort verjubelt, Autos und Urlaube und Stereoanlagen. Und kaum ein Jahr später nochmal 800.000. Und auch das habe er sofort verjubelt. Und jetzt stehe er wieder hier, eigentlich hatte er ja gekündigt, das sei das erste, was er gemacht habe. Sonntags arbeite er noch in einer Tankstelle, weil mit dem zweiten Gewinn habe er sich ein Haus bauen wollen, mit vier Stockwerken und Swimming Pool und Zeug. Und jetzt sei das Geld alle und es seien immer noch hunderttausende bei der Bank offen. „Für Leute wie uns ist Geld nichts“, sagte Gino, an den Satz habe ich seither oft gedacht. Und noch einen Satz hat er gesagt: „Deswegen müssen Leute wie wir zusammenhalten.“ Aber vielleicht bilde ich mir auch nur ein, dass er diesen zweiten Satz auch gesagt hat.

Meine Haut vernarbt sehr gut. Deswegen sieht man mir diesen Job nicht an, obwohl ich mich mindestens alle zwei Tage an einem dreihundert Grad heißen Stahlträger einen Katschen in den Arm gebrannt habe. Die einzige Narbe, die man sieht, ist von einem Geländerteil, das schlecht aufgehängt worden war und mir direkt auf die Innenseite des Unterarms fiel, als ich es vom Haken holen wollte. Kreisrund ist die Narbe, groß wie ein Fünfmarkstück. Man sieht sie nur im Sommer, wenn die Haut drumherum ein bisschen nachdunkelt. Das Geländer wurde an ein Rathaus ausgeliefert.

Zwei Jahre nach diesem Sommer haben sie den Laden dichtgemacht. Der Boden war anderthalb Meter tief mit Schwermetallen vergiftet. Die Chefs behielten ihr Haus, Gino verlor seinen Job. Manchmal google ich nach Werner, in der Hoffnung, dass ich nichts finde. Eigentlich immer, sobald ich dir Narbe sehe.

Egal wie es geht

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„Ist Dir ja egal“, sagt sie, das sagt sie immer, wenn es ihr schlecht geht. „Ist Dir ja egal, wie’s mir geht.“ Seit zwei Stunden höre ich mir an, dass sie sich umbringen möchte, aber nicht kann, weil sie leider keine Mörderin sei, aber ich würde sie umbringen, das sei Mord, was ich tue, weil ich nichts täte, außerdem hätte ich gar kein Mitgefühl, und womit sie eigentlich all ihr Leiden verdient habe, sie habe nie jemanden etwas getan, und jetzt dieses hier: Sie zeigt die Hand vor, ihre rechte. Es ist eine schmale Hand, das untere Gelenk am Zeigefinger ist etwas dick. Still steht die Hand in der Luft, bis sie selbst auf sie niederblickt und sie zu wackeln beginnt – wer beginnt zu wackeln, ist es die Hand, ist es Ilse, ich weiß es nicht. „So schlimm war das noch nie“, sagt sie immer, inzwischen sagt sie das fast jeden Tag. Die Hand ist ihr Seismograph, sie schlägt aus, um mir zu sagen, dass es in ihr bebt und brodelt.

„Wie kann ich Dir helfen?“, frage ich, aber sie will gar nicht, dass ihr geholfen wird, sie will auf keine Hilfe angewiesen sein. Sie will bleiben, was sie immer war, unabhängig und bewundert und eigen. „Hau ab“, schreit sie, „hau bloß ab! Du Arschloch!“ Dann geht sie in ihr Zimmer, während sie leise vor sich hinmurmelt, sie solle nicht immer Arschloch sagen. „Ist ihm ja egal, wie’s mir geht.“ Das ist ihr Mantra. „Ich sterbe hier“, sagt sie noch, was soll ich dazu sagen? Wenn es gut läuft, ja? Aber wenn ich es nicht mehr schaffe, dann wahrscheinlich nicht?

Es gibt so vieles, das man nicht ändern kann, nicht beeinflussen kann. Ich kann ihr die Angst nicht nehmen, die Unsicherheit, die Verluste. Ich kann ihr vorschlagen, eine Suppe zu kochen oder einen Kuchen zu holen – egal, was ich vorschlage, es wird auf jeden Fall falsch sein, weil eine Suppe oder ein Kuchen nicht das richtige sind gegen eine Hand, die zittert, sobald man sie ansieht. „Bring mich ja zu keinem Arzt, die sind alle dumm! Allesamt!“, schreit sie aus dem Zimmer. „Aber Dir ist es ja eh egal, wie’s mir geht. Arschloch.“, sagt sie hinter der Tür, inzwischen sagt sie es mir nur noch selten ins Gesicht, weil sie gesehen hat, dass mich das verletzt. Für sich selbst braucht sie das aber, dieses sauer sein auf mich, dass jemand da ist, den man verantwortlich machen kann, den man beschuldigen kann. einmal hat sie mir erzählt, dass sie es schade findet, nicht an Gott zu glauben, weil dann hätte sie jemanden, den sie verantwortlich machen kann für ihre Misere. Aber sie glaubt eben nicht, Glauben ist Kitsch. Stattdessen schimpft sie auf die Deutschen und auf Stalin, der einen Pakt mit Hitler geschlossen hat, dieses Schwein.

„Soll ich Dir was vorlesen“, frage ich, zum achten Mal inzwischen, endlich sagt sie ja: aus ihren eigenen Texten, dieses eine Gedicht vor allem, bei dem muss sie immer weinen. Ich kann es auswendig inzwischen, eines von vielleicht zehn Gedichten, die ich auswendig kann inzwischen.

Sieht man doch

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ilse

Ein Bild in einer Selbsthilfegruppe für Angehörige, eine alte Frau sitzt an einem Tisch, sie schläft, ihr Kopf ist vornübergebeugt, der Mund halb offen. Durch das Fenster scheint die Morgensonne.

Was kann man da tun, fragt die Tochter, ich weiß nicht mehr was ich tun soll, ständig schläft sie so ein und will sich nicht hinlegen.

Hast Du, fragt eine, sie denn schonmal gefragt, was sie will, ja, antwortet die Tochter, sie will so sitzen, aber sie merkt doch gar nicht mehr, dass sie einschläft. Das ist doch unbequem.

Sagt wer, fragt eine andere, das sieht man doch, sagt die Tochter.

Woran sieht man das, frage ich, es ist halt so wie ich es sage, sagt die Tochter.

Hast Du schon einmal versucht, ihr einen gemütlichen Campingstuhl hinzustellen, fragt eine, ich habe sogar einen Sessel gekauft, sagt die Tochter, einen schönen Sessel, da ist alles verstellbar dran und es gibt eine Fernbedienung und teuer war er auch.

Und? Naja, sagt die tochter, dann hat sie sich einfach auf einen der anderen Holzstühle gesetzt, bis wir den Sessel wieder weggenommen haben.

Also sie will so schlafen, wo ist denn dann das Problem, fragt eine, und die Tochter: Naja der Sessel war teuer und bequem sieht das nicht aus, so schläft man doch nicht, das kann doch nicht…

Der Frühstücksbrei

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ilse

(In ihrem Zimmer)

Siehst du, ich zittere. Wenn das so ist, dann ist es immer ganz schlimm. Ich habe auch noch nichts gegessen heute morgen, wieviel Uhr ist denn? Ach, acht Uhr, schon so spät? Ich muss mich mal ein bisschen hinlegen. Wenn das so ist mit dem Zittern, kann ich auch nichts essen. So schlimm war es noch nie, nicht einmal früher, weißt Du.

(Fünf Minuten später, in meinem Zimmer)

Kannst Du mal kommen? Ich weiß nicht, wie der Herd angeht. Ich wollte mir einen Brei machen, obwohl es eigentlich zu früh dafür ist. Wie spät ist es? Acht Uhr? Ach ja. Kannst du den Brei machen? Ich hab hier schon den Topf stehen, ja, nein nimm ruhig den großen. Es soll ja viel sein. Ich leg mich wieder hin.

(Zwei Minuten später, in der Küche)

Was machst Du denn da, ach Brei? Das ist aber der falsche Topf. Das wird ja viel zu viel. Komm wir füllen das in den kleinen Topf. Ja, jetzt ist es besser, aber da ist ja nur ganz wenig Milch drin? Komm, wir machen da noch Milch dran. Ruhig noch mehr. Kannst Du das mal machen? Ich muss mich wieder hinlegen.

(Zwei Minuten später, in der Küche)

Kochst du jetzt den Brei? Ach, aber da ist ja viel zu viel Milch dran. Und warum hast Du denn den kleinen Topf genommen? Es soll doch ganz viel werden. Und Zucker muss da dann auch noch ran, ja? Aber ich kann eh nichts essen, kuck doch, wie ich zittere. In solch einer Anspannung, da kann man nichts essen. Ich leg mich jetzt wieder hin.

(Vier Minuten später, in der Küche)

Ist der Brei fertig? Ist er auch schön heiß? Da muss man aber auch noch ein bisschen herumrühren. Das ist ja viel zu viel! Ach, vielleicht kann man das ja auch morgen noch essen. Ich hab gerade sowieso keinen Hunger. Machst Du mir eine Schale davon? Und wo ist der Zucker? Ah, ja, in meinem Zimmer, das ist gut.

(Ich bringe den Brei ins Zimmer, zeige auf den Zucker. „Ja, danke“, sagt sie, und dass ich das Licht anmachen solle, wenn ich ginge.)

(Vier Minuten später, sie steht in meiner Zimmertür)

Du, den Brei kann ich nicht essen, der ist ja viel zu heiß, außerdem hast Du vergessen da Zucker dran zu machen. Und außerdem ist es viel zu viel. Ich leg mich jetzt wieder hin.

(30 Sekunden später Essensgeräusche aus ihrem Zimmer, fünf Minuten später, in meinem Zimmer)

Du ist noch Brei da? Aber schön heiß bitte, das tut gut und hilft auch gegen das Zittern.

Fertig

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ilse

Ein Arztbesuch mit Ilse bedeutet mindestens 48 Stunden Nettoarbeitszeit, verteilt auf fünf Wochen. Das heißt, wenn es gut geht. Wenn es schief geht, auch gern das dreifache.Zuerst einmal muss herausgefunden werden, was eigentlich fehlt. Ist es der Weltschmerz oder ist es etwas konkretes, kann das Unwohlsein irgendwie eingegrenzt werden? Das gehört streng genommen gar nicht in die Arbeitszeit, das ist ein fortwährender Beobachtungs- und Bewertungsprozeß, weil irgendwas ist eh immer, und ich kann nur hoffen und mir Mühe geben, die Schmerzen richtig von den Zipperlein zu unterscheiden, das seelische Leid vom körperlichen richtig zu differenzieren, also insgesamt zu merken, nicht nur wann etwas nicht stimmt, sondern auch was ungefähr nicht stimmt.

Hab ich einen Verdacht, ruf ich die entsprechende Praxis an. Die herauszufinden dauert bis zu einer Stunde, weil Ilse fast alle Arztunterlagen weggeschmissen hat; Ärzt*innen sind nämlich grundsätzlich scheiße, hätten auch noch nie geholfen (wie man ja sieht, der Beweis sind ja ihre jetzigen Schmerzen sowie der Umstand dass sie eigentlich schon ihr Lebtag Schmerzen hatte; da sie aber nicht mehr 20 werden kann, sind ohnehin alle Praxisbesuche überflüssig; und selbst wenn es doch Heilung gibt, wozu eigentlich, es geht ja immer was kaputt). Also: alle Unterlagen raus in den Container, wenn nirgendwo eine Diagnose geschrieben steht, ist man zwar elend, aber nicht krank. Und elend ist besser als krank, weil zweiteres im Grunde das gleiche ist wie das erste plus obendrauf der Kontakt zu den nutzlosen Ärzt*innen, die Wege, die man gehen muss, draußen in der Kälte, und was ist wenn es regnet?

Das ist Phase zwei, die Verhandlung oder eben auch die Reflektion. Da ist also was (beispielsweise ist ein Schneidezahn abgebrochen, das tut zwar nicht weh, aber Brötchen essen geht nicht mehr, und eigentlich würde Ilse schon gern mal wieder ein Brötchen essen, also vielleicht doch zu diesem Zahnarzt gehen? Aber was, wenn sie angespannt ist an dem Tag des Termins, wenn es kalt ist oder es regnet? Geht es vielleicht auch so? Vielleicht wenn sie nur weiche Kuchen isst; ja, das müsste gehen, und es geht auch ein, zwei Wochen, dann hat sie die Kuchen über, überhaupt würde sie gerne mal wieder Brötchen essen oder Fisch oder Huhn, alos vielleicht doch gehen oder vielleicht auch nicht? Ich höre zu und höre zu und nicke und nicke und sage: Ja, verstehe ich, verstehe ich. Manchmal hat sie konkrete Fragen, ob ich denn dann mitkäme zum Beispiel, ich sage: Ja, ich komme mit. Ob ich ihr helfen würde, ich sage: Ja, das mache ich. Diese Gespräche dauern insgesamt ungefähr zehn Stunden oder zwölf, je nachdem.

Die Frage, ob ich hülfe, leitet über in die nächste Phase, die der Angst und der Schuld und der Aggression. Warum sie überhaupt zum Azt müsse, was sie denn dem lieben Gott getan habe, dass der sie jetzt so quäle; warum ich überhaupt mit der Praxis gesprochen hätte, warum es überhaupt einen Termin gäbe, warum eigentlich dieser Schneidezahn abgebrochen sei, und warum sie nicht einfach sterben könne. Das sind Fragen, die mit dem Abend kommen und über Nacht bleiben; es kommt dann vor, dass sie nachts um vier an meinem Bett steht und sehr wütend wissen will, warum ich sie nicht in Ruhe ließe. Es ist, das muss ich schon sagen, nicht ganz leicht, ruhig zu bleiben, wenn man aus dem Schlaf gerissen wird, um sich eine halbe Stunde anschreien zu lassen.Am schlimmsten ist die Nacht vor der Behandlung. Heute hatten wir diesen Zahnarzttermin, und heute Nacht stand Ilse alle Stunde an meinem Bett, um mich anzuschreien, um zu wüten und zu toben. Türen werden geworfen und Teller auch, ich werde jedes Schhimpfwort gerufen, das sie kennt, und zwischendrin hält sie dann oft kurz inne, steht zwischen meinem Zimmer und ihren und murmelt zu sich selbst hin: Warum bist Du denn jetzt so, hör auf damit. Aber das kann sie nicht, sie kann sich nur kurz hinlegen; das ist allerdings phänomenal, selbst aus dem brutalsten Wutanfall heraus kann sie direkt einschlafen, dann schläft sie eine halbe oder ganze Stunde (ich, der ich länger brauche um wieder einzuschlafen, entsprechend dann zehn Minuten), und dann überkommt es sie wieder und sie kommt vorbei mit ihrer Aggression. Gegen fünf Uhr morgens dann schläft sie für zwei Stunden, ich für anderthalb, und wenn sie dann aufwacht, ist sie bester Dinge, fröhlich und auch aufgekratzt. „Wollen wir tanzen?“, fragt sie dann, geht dann in ihr Zimmer und zieht sich an; fragt dann, wann es endlich losginge; ich sage, der Termin sei erst um zwei, da verdunkelt sich ihr Blick schon wieder, „wie soll ich das aushalten“, schreit sie, ich atme. Atme. Atme. Ja, wie hält man das aus eigentlich.

Es folgen nach und nach drei Stunden Vorbereitung, welche Mütze ist anzuziehen, ah diese, aber bevor sie sie anzieht, drängt schon die nächste Frage, nämlich welcher Mantel der richtige ist, sie steht vor der Garderobe, fünf Mäntel hängen da, und sagt: „Ich kann nicht gehen, ich habe keinen Mantel“, ob ein Schal nötig ist, und welche Mütze nochmal? Außerdem hat sie Postkarten gebastelt, die will sie mitbringen, aber wo hat sie die nochmal hingelegt? Es waren drei, warum sind die jetzt weg, sie waren in einem Umschlag, nein, so kann sie nicht gehen, und was ist mit dem Schal? Habe ich keine Antwort auf die Fragen, weil ich nicht weiß welcher Schal oder mich nicht entschieden habe (es ist schwer, Entscheidungen zu treffen, wenn man so wenig geschlafen hat), schreit sie und tobt und es werden türen geworfen (aber keine Teller). Habe ich eine Antwort und gebe ihr einen Schal, sagt sie: Arschloch. Dreckssack. Mieser Kerl. Naja, denke ich, besser als das Schreien und das Toben.Zwischendurch kommt sie und fragt: Aber Du hilfst mir doch? Hilfst Du mir? Soll ich meinen Schlüssel mitnehmen? Habe ich schon was gegessen? Das sind gute Momente, denn dann weiß ich, dass wir den Termin werden wahrnehmen können. Sie zeigt mir ihre linke Hand, die zittere immer, wenn es nicht mehr gehe; die Hand ist ruhig und entspannt, dann blickt sie drauf und beginnt, sie hin- und herzubewegen. Ich nehme sie und streichle ihr den Handrücken. „Das beruhigt“, sagt sie, „aber nutzen tut es nicht.“ Und dass sie nicht gehen wolle, drei Minuten steht sie in einem ihrer Mäntel vor mir und fragt, ob es der richtige sei für dieses Wetter, und die Socken? Ob ich die Krankenkassenkarte habe?

Auf dem Weg zum Arzt beschäftigen sie bereits andere Dinge: Soll man anschließend noch einkaufen gehen, ist genug zu Essen im Haus, haben wir die Postkarten dabei? Ich antworte, sie sagt naja. Dann sitzt sie im Zahnarztstuhl, das geht schnell, weil ich vorher gesagt den Helfer*innen gesagt habe, dass wenn wir lange warten müssen, sie den kompletten Raum zusammenschreien würde (das ist nicht ganz wahr, in der Öffentlichkeit behält sie die Contenance normalerweise), und wenn ich sie frage, wie es ihr geht, kuckt sie mich kurz an, dann fängt ihre Hand an zu zittern und sie sagt: „Das siehst Du doch, wie es mir ght, Dreckssack.“Dann macht sie die Augen zu und sagt: „Warum sagst Du das immer, Ilse, lass das doch“.

Also nehme ich ihre Hand.

Es gibt gute Ärzt*innen und weniger gute, es gibt ein paar ganz ausgezeichnete, aber es ist immer zu wenig. Es gibt jene, die nicht oder nicht genau genug erklären, was jetzt passiert; die denken, es sei ausreichend zu sagen, dass erst die Betäubung komme und dann die Wurzel des Zahns gezogen werde; die nicht daran denken, dass es erst eine Betäubung gibt, dann eine Pause, dann eine zweite Betäubung, dann noch eine Pause, dann die Wurzel gezogen wird, dann aber hier und da noch herumgeschliffen wird im Mund; die nicht daran denken, wie das ist, wenn sie, den Bohrer quasi noch in der Hand, aufspringen, um zu den nächsten Patient*innen zu eilen, wenn immer wieder Helfer*innen hereingesprungen kommen und wortlos dieses zu holen oder jenes zu verräumen; jene Ärzt*innen, die glauben, mit einem lockeren Spruch sei das dann alles zu überdecken, ein Witz zur rechten Zeit sei Ausdruck von Empathie; die machen mir die meiste Arbeit. Die denken auch nicht daran, laut oder langsam genug zu sprechen, dass eine ältere Frau mit schwachem Gehör das auch versteht. Also übersetze ich, was sie sagen, beantworte in der Zwischenzeit Fragen zum Lebensmittelbestand zu Hause und höre mir Klagen darüber an, dass das doch die falsche Mütze gewesen ist.

Nach einer Stunde oder so sind wir raus, alles in allem wurden vier Zähne gezogen, Ilse ist wackelig und hat irgendwas im Hals; aber sie ist nicht wütend, nur müde. Danach wird zwei Stunden gejammert, darüber dass der Hals sich so furchtbar anfühlt und dass da Blut im Mund ist, außerdem wolle sie jetzt Huhn essen, wann das denn endlich ginge; als es dann endlich ginge theoretisch, schläft sie ein.

Auch gut. Hab ich eben Zeit, hier darüber zu jammern.

Geschlagen werden

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ilse / pflege

Wie fühlst du dich jetzt, werde ich gefragt, aber das weiß ich nicht ehrlich gesagt. Ich weiß von Zorn, von Hilflosigkeit, von Schmerz. Vor allem aber weiß ich von Leere; es ist alles dumpf. Alles um mich herum, der Schrank, das Bett, die Zimmerpfanze, ist ein bisschen weniger da. Ich fühle mich gleichzeitig auch wohl, lebendig; auf eine gedämpfte Art euphorisch; das wird das Adrenalin sein. Aber zwischen mir und der Welt ist ein Graben, den ich nicht verstehe; weil sie mich nicht versteht.

Wie hat es soweit kommen können? Es ist nicht das erste Mal, sage ich mir, ich bin schon öfter geschlagen worden; es gab eine Zeit, da wurde ich regelmäßig geschlagen. Es war mir auch klar, dass das passieren würde, dass es passieren musste; das ist so bei Demenz, manche Menschen werden dann eben aggressiv, und dass Ilse eine dieser Menschen sein würde, das weiß ich schon lange.

Aber dass es mir passiert, das ist doch; ja, es ist ungerecht. Niemand kümmert sich mehr, niemand ist – aktuell zumindest – näher dran. Ja, ich verstehe den Mechanismus: diese Nähe heißt eben auch, dass sie an mir merkt, wie hilflos sie in bestimmten Situationen ist, wie ausgeliefert sie ist; das kann natürlich aggressiv machen, das würde mich auch aggressiv machen; und natürlich bin nur ich gerade greifbar, also wird sich diese Aggression natürlich an mir entladen; und wenn ich nicht gut genug, nicht perfekt mit der Situation umgehe (wobei ja unklar ist, ob es diesen perfekten Umgang überhaupt gibt, ob man das überhaupt perfekt gehandhabt bekommen könnte, wahrscheinlich nicht), also wenn ich nicht gut genug funktioniere, das es dann – so hieß es früher immer – knallt.

Auf meiner Wange. Sie glüht nicht, sie tut kaum weh, Ilse hat keine Kraft mehr in den Armen (ich muss mich um eine Physiotherapie kümmern, fällt mir dazu ein, nicht als erstes, aber schon recht bald). Das ist nicht das Problem, das körperliche; das Problem ist auch nicht die Angst; jedenfalls nicht die direkte. In keiner Weise denke ich, dass mein körperliches Wohlergehen beeinträchtigt werden könnte, ich schreibe diese Worte wie ein Bürokrat. Sie kann mir keine Knochen brechen, und ich habe nachgesehen, alle Messer in der Wohnung sind so stumpf, dass sie nicht durch meine Kleidung kämen; jedenfalls nicht, solang sie sie führt. Es gibt Menschen mit Demenz, die in agressiven Momenten ungeahnte Kraft entwickeln, das ist bei ihr nicht so. Vielleicht, denke ich, will sie ja gerade nicht schlagen, und weiß aber nichts besseres, hat aber keine Mittel zur Verfügung, weiß aber noch, dass das Schlagen trotzdem falsch ist, schlägt dann aber doch zu, gelähmt allerdings von diesen Einwänden, die sie doch hemmen.

Die indirekte Angst aber, ja. Kann es danach jemals wieder schön werden? Ich weiß, dass das geht und auch gehen muss, was mich aber ärgert (nicht: traurig macht): es liegt an mir, dass es wieder schön wird. Ich muss die Voraussetzungen schaffen, darf nicht grollen, darf keine Entschuldigung wollen, darf nicht fordern und unangenehm sein. Ich darf mich da nicht mit mir aufhalten.

Traurig bin ich und auch wütend, aber meine Wut und Trauer soll ich nicht auf sie richten; auf wen dann? Wir sehen ja niemanden mehr, die Weltda draußen ist ein Abstraktum. Vielleicht muss ich mir einen Gott erfinden, den zu hassen sich lohnt; ich, der römische Legionär.

Eine Stunde nach dem Schlag werfe ich es ihr doch vor, dass sie mich geschlagen hat. Ich sehe, wie es sich in ihr zusammenzieht, und sie mehrereAntworten versucht: dass, wenn es denn überhaupt so gewesen wäre, ich es mir ja wohl doch verdient hätte; dass ich mich ja, wenn es denn so gewesen wäre, mich hätte wehren können; dass sie noch nie einer Menschenseele etwas zuleide getan hätte, das sei schlicht nicht in ihrem Wesen. Und bei diesem letzten Punkt denke ich, warum habe ich ihr das vorgeworfen, will ich noch härter geschlagen werden? Weil es hat sie ja etwas – ein Impuls; ein seelisches Hindernis – gehemmt, stärker zuzuschlagen; will ich das diskutieren? Oder will ich die Gründe aus dem Weg räumen, die dazu führten, dass sie schlug?

Ich weiß schon, woran es liegt, also was der Anlass war; Arzttermine, Ämterscheiß, die Stromgesellschaft will eine Rückmeldung. Sie liest die Post noch und weiß aber: Sie kann das nicht mehr. Aber diese Institutionen hören nicht auf zu fordern. Sie sind rücksichtslose, menschenverachtende Verwaltungsapparate, die Abweichungen nicht dulden. Vor allem nicht von Leuten, die ihnen nicht auf Social Media die Kanäle vollkotzen können, wenn irgendwas nicht funktioniert. Auf französisch sagt man: J’en ai ma claque, davon habe ich genug. Wörtlich übersetzt heißt es aber: davon hab ich meine Schelle. Ilse haut mir ins Gesicht, weil sie sich von diesen institutionen vorangetreten fühlt; und ich derjenige bin, der ihr das nahebringen soll; ohne Behördenstatus, ohne daraus resultierende Rentenansprüche, ganz allein halt, ohne Support.

„Ich hätte nie gedacht“, sagt Ilse, „dass Du einmal böse mit mir sein könntest“, das ist so ungefähr zwei Stunden nach dem Schlag. Ich kann ganz gut vergeben, ich suche mir die Leute aus, denen ich nicht vergebe. Darauf bilde ich mir etwas ein, ich bilde mir auch ein, dass ich das nicht verdient habe, dass ich diesen Schlag nicht verdient habe; aber ich glaube mir das nicht. Es ist eine menschenverachtende Gesellschaft, die Leute, die nicht dazupassen, jeden Tag ohne Vorwarnung schikaniert; mich schikaniert sie gerade so, dass ich damit zurechtkomme. Wenn ich nicht mehr damit zurechtkäme, und mir müsste jemand zur Seite gestellte werden, um diese Lücke zu füllen, würde ich nicht auch dieser Person mal mit Hass, mal mit Liebe, mal mit Dankbarkeit, mal mit Verachtung begegnen? Da die Welt ja nicht mehr wissen wollen würde, wie es mir geht; würde ich es nicht an den Leuten auslassen, die es aus vielen Gründen doch interessiert?

Der nächste Tag war super. Ilse war zugewandt, lustig, zärtlich schon beinah bisweilen. Es ist etwas anderes, von jemandem geschlagen zu werden, der entweder die körperliche Kraft besitzt, eine*n ernsthaft zu verletzen, oder von dem man sonstwie abhängig ist. Jenseits dieser Konstellation gibt es immer noch viele Fragen, auf die ich keine Antwort weiß.

Ich muss nur aufpassen, dass ich nicht selbst der Gott werde, den zu hassen ich mir vorgenommen habe.

(Brot)jobs und Literatur

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Allgemein

Mir hat immer Thomas Bernhards Antwort auf die Frage gefallen, was er mache. Bernhard sagte, ich zitiere aus dem Gedächtnis: „Was mich betrifft, so bin ich kein Schriftsteller. Ich bin jemand, der schreibt.“ Das ist natürlich in aller gespielten Bescheidenheit auch aufgeblasen. Eigentlich würde ich gern gar nicht darüber reden, aber weil ich oft (oder bisweilen) darüber reden muss, tue ich es eben doch.

Schriftsteller, Autor, Texter, Journalist; all diese Worte habe ich schon über mich gesagt. Immer habe ich kurz gezögert, bevor das Wort dann fiel. „Ich bin [Pause] Autor.“ Ich denke, weil ich nicht glaube, das mir das zusteht: das Wort Autor weckt Erwartungen und Vorstellungen, die ich nur enttäuschen kann. Dass ich Pfleger bin, sagt sich viel einfacher: das glaube ich mir. Da weiß ich auch, wovon ich rede.

Ich schreibe, weil das eine angenehme Art ist, Zeit mit mir selbst zu verbringen. Ich freue mich, wenn mir dann Dinge gelingen und bin traurig, wenn es nicht funktioniert. Die Traurigkeit hält nicht lange an: Versuche ich es halt später nochmal, was soll’s. Geld spielt in dem ganzen Setting gar keine Rolle – ich bin, was Finanzen anbelangt, ohnehin unangenehm ignorant, bequem eigentlich. Nicht, dass ich je zu viel Geld gehabt hätte oder abgesichert wäre, bien au contraire. Ich hasse bloß alles bürokratische, und Geld ist ungemein bürokratisch. Da ist nichts romantisches bei übrigens, ich habe vielen Leute sehr viel Kummer und Arbeit gemacht mit dieser ignoranten, kindischen Haltung; ich bemühe mich, es besser zu machen, und es gelingt inzwischen auch oft; nicht immer.

An regulären Anstellungsverhältnissen hat mir immer dies gefallen: ich musste mich wenig kümmern. Nicht um die Krankenkasse, nicht um die Rentenversicherung, und die Steuer war auch angenehm übersichtlich. Das mit dem Gehalt war auch okay, aber nachrangig. Darum ging’s nicht in erster Linie.

Das scheint mir keine verbreitete Haltung zu sein. Ich habe gerade Brotjobs & Literatur gelesen, das aus sehr verschiedenen Perspektiven erzählt, wie es sich eigentlich mit Geld und Schreiben und all dem verhält. Das erste, was mir aufgefallen ist: Erstaunlich viele der Beitragenden haben Jobs in der Pflege gemacht. Mich wundert noch ein wenig mehr, warum es so wenige Romane über Pflege gibt. Aber das nur am Rande.

Viele (oder einige) beharren darauf, dass Schreiben ihr Brotjob sei, dass es darum ginge, die Schreibenden auch entsprechend zu entlohnen. Sabine Scho ist da besonders deutlich. Mich hat beim Lesen nie der Gedanke verlassen, dass ich es lieber hätte, alle Menschen könntenund dürften sorgenfrei leben, unabhängig davon, was sie leisten. Aber es ist mir auch klar, dass das ein sehr weltabgewandter, fast verträumter Gedanke ist, aus dem sich locker eine Haltung stricken lässt, der aber kaum konkrete Effekte hat. Die andere, die kämpferischere Haltung – wir wollen im Literaturbetrieb umverteilen, wir sind auch was wert – ist, wie soll ich sagen, produktiver.

Andererseits ist es schon so, dass ich mich in dem ganzen Betrieb nie wohlgefühlt habe, dass das also vielleicht deswegen gar nicht mein Kampf ist. Am ehesten identifizieren konnte ich mich mit einigen Passagen von Karosh Taha, der dieser ganze Literaturbetrieb auch suspekt ist. „Alle kennen sich.“ Wiederum andererseits: den meisten mir bekannten Autor*innen geht das so.

Dabei kenne auch ich viele Leute, vielleicht mach ich mir da was vor. Vielleicht bin ich nur den Schritt nicht gegangen, den viele Beitragende in diesem Band sich hart erkämpft haben: zu sagen, ja, ich bin Schriftsteller*in, ich bin Autor*in. Andererseits fehlt mir völlig das Bedürfnis, dass das auch als Arbeit anerkannt wird; es ist natürlich Anstrengung, auch der ganze Klimbim drumrum, es ist Mühe. Aber Arbeit?

Nochmal Taha: „Ich weiß: Kunst ist kein Luxus, den ich mir erlaube, sondern eine Notwendigkeit; Geld sollte nicht darüber bestimmen, was ich mache, und doch entscheidet Geld über alles, und dies zu ignorieren, bedeutet die Realität zu leugnen.“ Das stimmt schon, ich leugne, und ich bin bisher damit durchgekommen, für mich hat der Hahn noch nicht dreimal gekräht. Bloß wenn ich das dann umfassend erkannt habe, werde ich dann überhaupt noch schreiben wollen? Kann ich mich diesen Zumutungen, diesem gewogen werden nirgendwo entziehen?

Aber wie billig ist dieses sich entziehen; vielleicht, weil ich ganz früher träumte so zu leben wie diese Held*innen der Romane aus dem 19. Jahrhundert, und diese Träume mich dazu verleitet haben zu glauben, dieses sorglose, unstete Leben stünde mir auch zu. Tut es nicht; mein Ausweg war die Pflege. Wohl auch eine Flucht, oder eine Befreiung, kommt drauf an.

Okay, ich muss noch ein paar Rechnungen schreiben, die seit Monaten erledigt sein könnten.