Es gibt gute Tage, die sind deutlich in der Überzahl. Und es gibt schlechte Tage. Heute war ein schlechter Tag.
Was ganz genau es ist, weiß ich nicht; vielleicht die Schmerzen, vielleicht die Depression, vielleicht die Einsamkeit, vielleicht (wahrscheinlich) alles drei. Sie schreit und ruft und das sind unter den schlechten die guten Momenten, die schlechten sind, wenn sie nur noch lamentiert; ach ja, das war einmal ein schönes Wort gewesen, das Lamento, eines, das etwas bedeutet hat; und jetzt ist aber eine giftige Ironie hineingesickert, um jene, die lamentieren, zu desavouieren. Es ist die Ironie der Gesunden, die sich nicht mit jenen auseinandersetzen mögen, die nicht so gesund sind, denen es schlecht geht, die leiden.
Ilse leidet, das ist klar.“Ich will nicht mehr. Ich mag nicht mehr. Ich will sterben, aber ich bin kein Mörder“, schreit sie, mit dieser Stimme, die nicht kraftlos ist, aber gedeckt, eine Stimme, die keine schrillen Töne mehr kann, und dann kuckt sie mich an und sagt: „Es tut mir leid, es tut mir leid. Ich weiß, Du kannst nichts dafür.“
Es ist ein Wahn, ein Todeswahn, aber gleichzeitig ist er real, oder anders: er ist existenziell. Ich weiß nicht, was sie nicht kann, sicher kann sie vieles nicht mehr, oder anders: vielleicht merkt sie, dass nicht mehr gebraucht wird, was sie noch kann, vielleicht merkt sie, dass etwas schwindet, aber was? Weiß sie was?“Und das nennt sich Staat! Das nennt sich Gesellschaft!“ Sie drückt sich noch sehr gut aus, sie durchschaut alles (nur nicht sich selbst, das wäre auch fatal). Sie war selbst lang genug Teil des Ganzen, hat sich nicht gekümmert, hat sich nicht gesorgt, hatte sich im Blick und sonst niemanden. Wenn ich ihr jetzt Bilder von sich selbst zeige, ist sie gerührt. „Ach, wie die Ilse da kuckt! Da ist sie traurig, und da lacht sie.“ Das sagt sie über sich. Es stimmt, was sie sagt, aber etwas daran stimmt nicht. Vor nicht einmal fünf Jahren hat sie einen sehr wichtigen Preis gewonnen, da kamen viele Karten. Besuche aber kommen nicht mehr. Einmal die Woche die Schwester, alle drei Wochen eine alte Freundin, die selber kaum noch kann und deswegen nur dann vorbeischaut, wenn der Sohn Zeit genug hat, sie zu fahren. Einmal die Woche eine Tschetschenin, die früher die häusliche Pflege besorgt hat, aber dann selbst familiäre Verpflichtungen hatte. Und die jetzt vielleicht oder vielleicht auch nicht bezahlt wird, um vorbeizukucken einmal die Woche abends, so wie ich bezahlt werde.“Es hat keinen Sinn. Wozu das ganze noch? Ach, wenn Du nur ein Gift hättest, dann wärst Du zu etwas nütze!“ (Pause) „Es tut mir leid, Du kannst nichts dafür.“
Wie lang hab ich noch, bis ich was dafür kann? Drei Stunden sitze ich da, sie schimpft und wirft mit Büchern und versucht zu weinen, aber es kommen keine Tränen. Erst schimpft sie auf Freund*innen, aber das nimmt sie dann wieder zurück; vielleicht hat sie Angst, dass ich es weitersagen könnte, oder dass sie sich selbst verraten könnte. Ein enger Freund macht gerade ein Buch, und sie kann nicht verstehen, warum das so lange dauert; warum er so lang nicht kommt. Dann schimpft sie los auf die Staaten, auf Hitler und Stalin und die Deutschen und die Franzosen, dann hält sie inne: „Über die Briten kann ich nichts sagen, dazu weiß ich nichts.““Auch die Briten waren schlimm“, sage ich, und erzähle vom Burenkrieg, von Indien und von den Massakern in Zimbabwe.
„Ach, und sowas weißt Du?“ Sie klingt ehrlich überrascht, sie fragt nach, es interessiert sie, aber irgendwann sticht wieder ein Schmerz, blutet die Seele, und etwas verzweifelter bricht hervor.
Und dann schreit sie wieder oder lamentiert oder ist wütend oder verzweifelt oder angstvoll oder. Sie sieht den Becher voller Bleistifte neben sich am Bett und sagt: „Ich will aber nicht mehr zeichnen, ich schmeiße das jetzt weg!“
Okay, sage ich. Sie wird sie in den Hausflur schmeißen und ich werde sie auflesen, so wird das werden.
„Oder willst Du sie vielleicht haben?“Ja, gerne, sage ich, und dann denke ich: Vielleicht muss ich jetzt mit dem Zeichnen anfangen. Vielleicht ist das jetzt der Moment dazu.