Wie ich binnen einer Stunde aus meiner neuen Wohnung geflogen bin

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ilse / pflege

Ich bin umgezogen. Ich schrieb oben Wohnung, aber tatsächlich ist es ein Zimmer in einer WG. Das Setting ist ein bisschen ungewöhnlich: Die Mitbewohnerin ist die Mutter eines Freundes, Anfang Mitte 70, Schriftstellerin, eine stolze, gewitzte Frau. Und sie ist dement, dritte Phase, heißt es. Ich kenne genug Menschen mit Demenz um zu wissen, dass so eine Kategorisierung nur bedingt aussagekräftig ist.

Sie hat bis jetzt größtenteils allein gewohnt, aber es gibt in der Wohnung eben auch ein großes Gästezimmer, in dem früher befreundete Künstler*innen übernachteten, wenn sie Auftritte in Berlin hatten. Das sollte meines werden. Im Gegenzug sollte ich ein bisschen im Blick haben, was alles nicht mehr so ganz rund läuft, mich auch ein bisschen kümmern; wie sehr und welche Hilfen es noch bräuchte vielleicht, das sollte man noch herausfinden. Natürlich habe ich mich im Vorfeld vorgestellt und mir auch alles angesehen, und das war auch sehr nett gewesen. Sie nannte mich abwechselnd Friedrich, junger Mann und dünner Mann und erzählte von einer befreundeten Fotografin, die viele Bilder von ihr gemacht hatte. Dann holte sie die Bilder und zeigte sie mir: Ilse -. Ich nenne sie Ilse. Ilse nachdenklich, Ilse lachend, Ilse verträumt, Ilse, wie sie in die Landschaft kuckt. „Das war in der Nähe von Bautzen“, sagt sie. Und dann, völlig unvermittelt: „Bautzen steht, damit andere sitzen können.“ Sie sah mich an, aber ich brauche zu lange um den Witz zu checken, bin halt Wessi. Also weiter: Ilse lesend, Ilse vorlesend, Ilse, wie sie kritisch kuckt.

Zwischendurch fragte sie immer wieder, ob ich denn einziehen würde, und dass sie sich freut. Ich sagte, dass ich das noch entscheiden müsste, und nach einer Stunde etwa ging ich. Ich hab dann noch ein bisschen hin- und herüberlegt, nach den Erfahrungen in der letzten WG hatte ich eigentlich keinen Bock mehr und wollte allein wohnen, aber andererseits: das Zimmer ist mietfrei, es gibt auch etwas Handgeld obendrauf. Ilse ist interessant, sie hat viel erlebt und kann auf ganz spröde Art sehr zauberhaft sein. Und witzig, witzig ist sie auch. Außerdem denke ich mir: was gibt es zu verlieren? Wenn es überhaupt nicht geht, musst Du halt ein zweites Mal umziehen. Naja nun.

Also sage ich zu. Unter dem Eindruck des netten Nachmittags sind mir dann zwei strategische Fehler passiert: Ich war im Vorfeld nich häufiger auf einen Tee zu Besuch, weil diesdas und immer was zu tun. Und zweitens: Ich habe den Einzug auf den frühen Abend gelegt. War halt organisatorisch geschickter, aber ich hätte mir auch, hätte ich für zwei Cent nachgedacht, darauf kommen können, dass zum Abend hin Ilses Kräfte weniger werden und sie dann abwehrend wird.

Abwehrend ist vielleicht ein Euphemismus. Das Zimmer ist möbliert, also ist der Umzug übersichtlich. 15 Kartons und etwas Krimskrams. Wir machen ihn zu zweit, den Rest werde ich einlagern. Um 18 Uhr sind wir an der neuen Wohnung, es stehen vor der Tür: der Sohn mit seiner Freundin und ein Freund der Mutter, das Fahrrad bereits zwischen seine Beine geklemmt. „Viel Spaß!“, sagt er, und dass sie niemanden hereinlassen wolle. Dann fährt er.

Okay.

Wir tragen zu dritt die Kisten ins Hinterhaus, während des Sohnes Freundin immer mal wieder klingelt. Die beiden sind sehr nervös, ich nicht; in Konfliktsituationen stelle ich mich oft einfach tot. Das ist keine Strategie, sondern ein Wesenszug; Gefahr macht, dass ich so tue, als wäre ich abwesend. Das ist sehr schlecht, wenn zum Beispiel gelbe Briefe kommen, aber gut gegenüber Personen, die aus Angst wütend sind.

Eine viertel Stunde, nachdem wir die Kartons vor die Wohnung gestellt haben, macht Ilse die Tür auf. Sie ist aufgebracht, sie will nicht, es ist ihre Wohnung, sie will keine Hilfe und wenn doch dann nur von jemandem, den sie kennt, und sie kennt schließlich genug Leute. Es eskaliert dann etwas zwischen ihrem Sohn und ihr, sie schlägt ihn, er sagt ihr, dass sie ihn geschlagen hat. Später denke ich, ich hätte da schon eingreifen sollen, vielleicht sogar noch früher, aber mir ist selbst nicht ganz klar, wie sich ihre Wut richtet: ich kenne sie nicht. Da hat sie schon recht. Ich hätte häufiger kommen sollen. Außerdem bin ich halt konfliktvermeidend, vermaledeit. Erst als der Sohn sich zu mir dreht und sagt: „Ich mache das falsch, oder?“ komme ich aus meinem Kokon. Ich nicke und sage:

„Hallo Ilse.“

Zu dem Zeitpunkt steht ein Karton in der Wohnung. Sie sagt, sie wolle alleingelassen werden, und dass ich gehen solle.

Okay, sage ich, aber was mache ich mit den Kartons?

Da denkt sie nach. „Wie kamen die denn hierher? Nimm sie wieder mit!“

„Der Typ mit dem Auto ist schon weg.“

„Dann hol halt Dein Auto!“

„Ich hab nicht einmal einen Führerschein.“

Sie zeigt auf den Hausflur. „Dann stell sie dahin und hol sie morgen!“

„Ja, aber was, wenn da jemand drangeht?“

„Was ist denn da schon drin?“, fragt sie.“Bücher“, sage ich, es entspricht zu 70 Prozent der Wahrheit. Sie macht eine wegwerfende Handbewegung.

„Die Leute gehen nicht an Bücher. Ich weiß das, ich bin Schriftstellerin.“

„Aber ich hab da auch Manuskripte drin. Was, wenn das jemand wegwirft?“

Sie kuckt mich an. Sie kuckt mich die ganze Zeit schon an, aber jetzt kommt es mir so vor, als würde sie mich auch sehen.

„Sie sind Schriftsteller?“ Ja, sage ich, und dass demnächst mein neues Buch erscheine.

Sie nickt. „Sie können sehr gern mit Manuskripten zu mir kommen, ich bin sehr gut darin, das zu beurteilen, aber nicht mit so vielen!“

Danke, sage ich, aber ich müsste ja jetzt doch die Kisten irgendwo unterbringen.

„Kisten?“, fragt sie, sie hat vergessen, wie viele es sind. „Wieviele denn?“

„15“, sage ich.

„Nein“, sagt sie, das seien zu viele und sie wolle auch niemanden, der auf sie aufpasse und über sie bestimme, sie käme zurecht, außerdem was sei ich überhaupt für eine Hilfe, wenn ich ihr nicht hülfe, die Kiste im Zimmer wieder rauszutragen, und einfach nein.

Wir reden ungefähr eine Stunde, dann erlaubt sie mir, die Kisten in ihren Wohnungsflur zu stellen, wenn ich morgen früh wiederkäme, um sie abzuholen. Ich sage zu. Ich versuche, die Kisten mit den wichtigen Unterlagen nach unten zu stapeln, und verabschiede mich dann. Ilse fragt mich, warum ich die Bücher nicht bei mir gelassen hätte, wo sie hingehören, da sag ich ihr: „Ich bin jetzt obdachlos, weißt Du.“ Das entspricht nicht ganz der Wahrheit, mein Mietvertrag läuft noch drei Wochen, aber es ist hinlänglich wahr.

Sie zögert, dann sagt sie: „Aber das ist ja nicht meine Schuld.“

„Das stimmt“, sage ich.

Sie kuckt auf den Boden und sagt dann: „Komm morgen wieder, dann reden wir über Dein Manuskript.“

„Danke“, sage ich, und: „Bis morgen.“

„Bis morgen“, antwortet Ilse, sie sieht sehr erschöpft aus.

Am nächsten Morgen, naja gegen elf, klingel ich bei ihr. Ich hab davor in die Mülltonnen im Hof gekuckt und war sehr froh, da nix von mir gefunden zu haben. Als sie aufmacht, lächelt sie. „Der dünne Mann!“, sagt sie, „komm rein.“ Ich könne die Kisten jetzt ins Zimmer tragen, die stünden sehr ungünstig im Flur, und eigentlich habe sie mir gestern noch etwas geben wollen, worauf man liegen könne, aber sie komme nicht mehr darauf, was es gewesen sei. Als ich die Kisten ins Zimmer räume, fällt es ihr wieder ein: eine Isomatte.

Danach zeigt sie mir ein Bilderbuch, zwischendrin sagt sie, dass sie froh sei, ich sei hier. „Das bin ich auch“, sage ich, es ist nicht gelogen.

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